Brief an den Vater

Noch schlägt dein Herz, mein Vater, und ich schreibe dir. Können dich meine Worte noch erreichen? Wie ein Windspiel hüllte dich der Nebel deiner Krankheit— Morbus Alzheimer— ein, immer dichter und undurchdringlicher, wusch dir die lebenslange Qual unerträglicher Gedanken von deiner Seele und ließ dich zurück in der Unschuld deines geistlosen Seins. Eingetaucht in den Smog des Vergessens bist du aus dieser Welt geflohen, die dir immer ein wenig zu laut gewesen war, zu hektisch, zu schnell und viel zu traurig. Ein Bewohner im Reich deiner Mitte, ein Reisender im Kosmos deiner eigenen Unverständlichkeit. Niemand kann dir zum fernen Pol der Ruhe folgen, dein Begleiter ist die Einsamkeit deiner letzten Tage, der dir Stille schenkt. Selbst das ständige Gezeter deiner Frau verhallt an den Grenzen deines stummen Paradieses, wo es keine Zukunft gibt, kein Hier und Jetzt, nur Vergangenes, Erlebtes, Verwischtes und nie Gewesenes. Vielleicht bist du nun glücklicher, ich weiß es nicht, vermag es nicht zu sagen. Als ich dich die Pforte des stillen Gartens überschreiten sah, als dir selbst mein Name schon manchmal entfiel und du angefangen hast, dich selbst zu vergessen, wollte ich mich von dir verabschieden. Deine Frau und selbst deine Tochter wussten, dass du den Weg in die Einsamkeit eingeschlagen hast, genauso wie schon Grossvater und auch Onkel Eberhart. „Was für ein Unglück!“, sagten sie und für die, die dich kannten, war es kein Wunder, denn sie wussten, dass du schon lang zuvor beschlossen hattest dich aufgeben und einfach wegzugehen. Dein Gewissen ließ dich jahrzehntelang nicht schlafen. Aus den unendlichen Stunden der Nacht stiegen Gedanken empor, welche dir tagsüber untersagt waren zu denken. Wie scharfe Messer schnitten sie sich in dein Herz, bohrten sich tief in deine Seele und raubten dir deine Lebenskraft, während neben dir im Ehebett deine Frau lag, ohne Reue oder schlechtes Gewissen für die untertags begangenen Grausamkeiten und tief in die unbewusste Welt ihres Schlafes eintauchte. Ist es still dort, wo du nun bist? Hast du endlich deinen Frieden gefunden?

Trotz deines Jähzornes und deiner Wutausbrüche, den Schimpfworten deiner Ungeduld und deiner nicht immer einfachen oder gerechten Art konnte ich immer in dir eine gute Seele sehn, ein reines Herz, das nicht böse war, aber von einem schwachen Willen umgeben, ohnmächtig um dich gegen das Diktat deiner Gattin durchzusetzen. So tatest du, was sie dir auftrug, Tag für Tag, ein Leben lang. Seit eurer ersten Begegnung beim Schifahren in den Bergen, wusste sie, dass sie über dich herrschen würde, denn du warst ihr damals wehrlos ausgeliefert, gedemütigt und erniedrigt, Vater einer Tochter, die du niemals sehen würdest. Einmal da hattest du es mir erzählt, als wir durch die Unterführung der Eisenbahn spazierten. “Hier war es”, sagtest du plötzlich und ich verstand nicht gleich was du meintest. “Hier hat sie mir gesagt, dass sie schwanger sei mit meinem Kind und dass sie mich verlassen würde.” Du hast dir auf die Lippen gebissen und Tränen traten in deine Augen. Kein Wort mehr, niemand durfte merken, dass es dir noch immer so weh tat, nach all den Jahren, denn darüber durftest du nicht sprechen. Immer schon warst du zu sensibel— das glaube ich, habe ich von dir geerbt— hast deine Gefühle auf deinen Handflächen getragen und alles immer viel zu ernst genommen. So wurdest du zu einem Zuseher der Tragödie deines eigenen Lebens. Doch während du stumm ertragen und gelitten hast, bin ich weggegangen, weit weit weg, geflohen ans Ende der Welt. Die Kaltherzigkeit, die täglichen Gemeinheiten und berechnende Geltungssucht, der sich sich alles und jeder unterordnen mußte, konnte ich nicht länger ertragen. Seit dem Tag meiner Geburt kämpfte ich mit deiner Frau, meiner Mutter, denn immer war es nur ihr Wille, den sie durchsetzen wollte—musste, gegen den meinen, den sie nie brechen konnte. So durchlitt ich eine Kindheit an der mich am meisten erstaunt hatte, dass sie nicht in meinem Selbstmord geendet hatte. Mein Wille zu Überleben als Trotz meiner Mutter gegenüber, die immer schon mein frühes Ableben als eine realistische Möglichkeit in Betracht gezogen hatte.

Meine Welt war zerborsten unter den Hammerschlägen mütterlicher Zuneigung, vom Sturmwind eines unschuldigen Kinderherzens zerstreut, zerfiel mein elendes Dasein zu Staub. In einem, von allem Menschlichen entrückten Blick zürnte das Inferno unserer verschränkten Leben und ich wurde zur Stimme in euren Köpfen, ein Mahner meines unzähmbaren jungen Lebens. So wie du dich nun in die Einsamkeit deiner Innerlichkeit geflüchtet hast, musste ich ein Leben in der Ferne führen, im unfreiwilligen Exil der Hoffnung auf Freiheit, ein Wanderer zwischen Welten, ein Wanderer, Gestrandeter. Aus der Ferne beobachteten meine Mutter und ich den Verfall des anderen, welcher unser eigen war. Das Schicksal zweier Menschen, welche sich mit einer Intensität verabscheuten, die sie ihr ganzes Leben lang immer weit von einander entfernt hielt, in einer Distanz, welche beiden ermöglichte, diese tragisch absurde Symbiose bis jetzt zu überleben. Doch nun, da du deinen Weggang begonnen hast, erodiert das Gleichgewicht unserer beider Kräfte und wir fallen bodenlos mit einer Wucht und derartigen Gewalt dem Zusammenstoß entgegen, der die unabwendbare Annihilation des einen oder des anderen bedingen wird.

Vater, mein Vater, der du dein Dasein in der zweiten Reihe verlebt hast, Zuseher deines eigenen Niederganges im Schatten deiner Gattin. Gutta cavat lapidem – der stete Tropfen höhlt den Stein und hat dich tief in dein Innerstes getrieben, weit weg von allem, vom Schmerz einer Liebe, die du nie erleben konntest, von einem Leben welches du aufgehört hattest zu träumen. Ein Erdendasein aus dem alle Farben gewaschen wurden, bis alles nur mehr einförmig und grau erschien. Du wurdest zu ihrem Schatten, ihr willenlos ergeben und gänzlich ohne Trost. Der unentrinnbare Kerker eurer Ehe hat dir dein Lebenslicht geraubt, deinen Mut zu neuen Horizonten aufzubrechen um dort dein Glück zu suchen. Langsam und unaufhaltsam erstarb dein Denken und es blieb nur mehr die Trauer deines Daseins, jeden Tag aufs neue. Sie nahm dir die Luft zum Atmen, erstickte deinen Schrei nach Freiheit, bis du aufgegeben hast, an dich zu glauben. Die Unendlichkeit deiner Tage trugst du wie eine Last mit dir herum, die immer schwerer wurde, mit jedem Schritt, jedem Atemzug, jedem deiner Gedanken. Wohin sollte es denn gehen, wenn nicht dem Ende zu: die Sinnlosigkeit des Alterns, ein Warten auf die barmherzige Vergesslichkeit eines Greises, die Hoffnung erschlagen und tot. Du wolltest nicht die Endgültigkeit deiner letzten Stunde erwarten, dich nicht dem Grauen des allerletzten Momentes stellen, nicht Rechenschaft ablegen über ein verwirktes Leben. Wie sehr ich dich doch verstehe! Kein Sinn mehr, der nicht längst schon zu Unsinn geworden ist und den nur mehr du verstehen kannst. Das Licht hat seine Macht verloren, schwerelos stürzt du in die Nacht. Ich kann dich nicht halten. Auf deiner Reise wünsch ich dir viel Glück. Machs gut.

Author: freakingcat
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