Buchauszug “Der Verlust der Schwerkraft”

Der Himmel das war die Küche meiner Großmutter. Der einzige Ort, an dem das Kind sich sicher wähnte und wohin es flüchtete, wenn Sturmwolken aufzogen im Haus nebenan, im Haus der Eltern. Der Himmel das waren die Semmelknödel, die ihre, von Altersflecken übersähten Hände und von der Gicht gekrümmten Fingern, zu köstlich flauschigen Bällen rollten, die noch dampfend heiß und in Pilzsoße getunkt, gierig im Mund des hungrigen Kindes verschwanden. Himmel, das war der einzige Fleck in der ganzen Stadt, eine Küche, in der das Kind sich sicher fühlte und von großelterlicher Liebe umgeben, nachmittags für ein paar Stunden glücklich sein durfte. Himmel, das war für das Kind vor allem Großmutter: hochgewachsen, halbblind, mit kleinen schlauen grauen Augen hinter dicken Brillengläsern verborgen, ließ sich von nichts und niemandem davon abhalten, dem Kind die Liebe und Geborgenheit zu geben, die ihm seine leibliche Mutter nicht schenken konnte und wegen ihrer strikten Erziehungsmethoden nicht geben wollte. Ein Konflikt, aus dem ein jahrzehntelanger Krieg zwischen Großmutter und Mutter wuchs und dem Kind, nebst täglichen Kränkungen, Bestrafungen und oft tagelangem Todschweigen im Elternhaus, weiteren emotionalen Schaden zufügte, der dann bereits im heranwachsenden Jugendlichen, eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung hervorrief, die ihn zu einem Leben im Exil, einer Flucht vor sich selbst und zu einer dunklen abgrundtiefen Einsamkeit verfluchte, die er als heimatloser Gehetzter ständig mit sich trug.

Im Himmel lebten immer verschiedene Tiere, denen Großmutter im Laufe ihrer 94 Erdenjahre ein Zuhause bot. Einem Zwerghasen hatte sie erlaubt sich in ihrem Sofa eine Höhle zu nagen und graben. Einmal watschelten zwei Entlein durch ihre Küche, zu Freudenschreien der Kinder und bösartigen Verfluchungen seitens der Mutter. Der ganze Ort wusste von ihrer Tierliebe und warf ihr Katzen über den Gartenzaun, die sie aufpäppelte oder aufzog und in ihre immer weiter anwachsende Katzenfamilie aufnahm. Kein Zimmer des Hauses, in dem nicht in irgendeiner Schachtel, unter dem Bett kauernd oder hoch oben auf dem Kasten, eine Katze lauerte, „heimtückige Biester“, so die Mutter, „voller Krankheitserreger, die einem das ganze Haus vollbrunzen.“ Fenja eins und Fenja zwei, verfettete bösartige Zwerglanghaardackel, erreichten trotz andauernder Ermahnungen der Mutter und auch des Tierarztes, das arme Tier nicht noch mehr zu überfüttern, beide ein biblisches Alter und lieferten Oma somit das schlagende Argument um ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen. Dem Kind, aus dem ein Erwachsener geworden war, erzählte Großmutter, wenn sie sich einmal im Jahr, für ein paar Tage sehen konnten, manchmal von Rex, dem Schäfterhund, mit dem ihr Sohn Ulrich aufwachsen durfte, der ihn jeden Tag von der Schule abholte und immer auf ihn aufpasste und schließlich vom Nachbarn mit Gift zu Tode gebracht wurde. Im Alter von 89 Jahren jedoch erwähnte Großmutter, dass sie beabsichtige bald Fenja Nummer drei zu adoptieren. Das war ein Fehler, denn Mutte in unerwarteter Scharfsinnigkeit kehrte ihr Argument um und verbot ihr die Anschaffung eines weiteren Hundes mit der Begründung, dass dieses Tier, sie um viele Jahre überleben würde und sie es dann wäre, die sich um den Scheißdackel kümmern müsse. „Ein neues Hundsvieh kommt mir weder in dein, noch in mein Haus.“ Damit war das Schlusswort gesprochen und Oma versank in ihren letzten Lebensjahren in einem leeren Haus in der Einsamkeit langer stiller Tage.

Der Beredsamkeit der Großmutter, die oft in tränenreichen Erinnerungen an Heinz gipfelten, den Bruder ihres Ehemannes, den sie als eine verwandte Seele empfand, stand das Schweigen Großvaters gegenüber, der am Küchentisch sitzend, schnitzend, den ganzen Raum und jede Person in seiner Nähe in wundersame auratische Stille und Ruhe hüllte. Sein ganzes Leben hat Großvater geschwiegen. Er schwieg zum Krieg, genauso wie er über seine armselige Kindheit schwieg, als drittgeborener von fünf Brüdern, Sohn des Zappelphilipps Heinrich, Hilfsarbeiter, Maurer, zuletzt Gemüsekrämer am Rossmarkt, der keine Sekunde stillsitzen konnte und Maria, einer geborene Roitinger, dicklich und rund, immer mit einem Lachen auf den Lippen, die als Ausdruck ihrer überschäumenden Mutterliebe, jeden ihrer fünf Söhne mit dem Gesicht voran in den üppigen Bergen ihrer Weiblichkeit verschwinden ließ. Kein Wort sprach er über die Ehe mit Großmutter Hilde, die eigentlich Eleonore hieß und der irgendwann einmal irgendjemand den Namen Hildegard verpasste, der ihr, trotz ihres Ungefallens und Protests, ein ganzes Leben lang geblieben ist und sogar auf ihren Grabstein geschrieben wurde. Großmutter erzählte dem Kind, was in Opas Wolke des Schweigens, die ihn am Ende seines Lebens immer mehr einhüllte und ihn schließlich gänzlich verstummen ließ— Morbus Alzheimer diagnostizierte Hausarzt Dr. F. — verborgen blieb und für immer vergessen wurde. Geheiratet hatten sie in der Stadtpfarrkirche Grieskirchen am 4. Dezember 1940, ganz still und heimlich und hochschwanger im achten Monat, gleich nach der Mittwochsmette mit ein paar alten Betweiblein als Zeugen. Eine Rechnung über die kirchliche Trauung des Brautpaares über 5 Reichsmark, eine für die Ehe-Aufnahme, zwei für Dispens und Trauung, ohne Aufgebot oder gar einem Gottesdienst, Gott bewahre!, übergab Großmutter ihrem Enkel, bevor man sie ins Altersheim abschob.

Vierzig Tage dauerte das Sterben von Großvater— Zeit die seine Seele brauchte um den, von jahrelanger Krankheit gemarterten Körper, endlich verlassen zu können. Er entschwand, so wie er gelebt hatte. In den frühen Morgenstunden eines grauen, naßkalten Novembertages schlief Opa einfach hinüber; friedlich, still und ohne sich gegen die Ankunft des Todes zu wehren. Er hinterließ eine Leere, die besonders stark in der Küche zu spüren war; die Abwesenheit seiner Stille, das Verschwinden seiner Ruhe hinterließen ein Loch im Gewebe dieser Welt, aus dem sich, in den zwölf Jahren, in denen Großmutter noch auf Erden weilte, die furchtbarsten Mächte der Finsternis aus dem Hades erhoben und in Oma’s Küche kamen, um die Zeit zu verfluchen. Für Großmutter fingen nun Minuten, in denen sie apathisch im Lehnstuhl saß, an zu Stunden zu werden, und Stunden zogen sich wie Tage, in denen sie aus dem Fenster auf den Regen und Schnee des Winters starrte, der sie mit ihrer Einsamkeit, in ihr Haus sperrte.

Die Zeit zerrann, die Jahre vergingen, immer mehr tauchte Großmutter in die Schattenwelt ihrer Erinnerung ein, in der sich der Schleier zwischen Erlebtem und Gewünschtem, zwischen Liebe und Träumen, Erwartungen und bitteren Enttäuschungen, schon vor langem begonnen hatte, sich aufzulösen. Auf Spaziergängen in die Umgebung von Grieskirchen, auf dem Kaisersteig vorbei an Schlössern und Kapellen, der Trattnach entlang bis zu einer Trauerweide, unter welcher, ihre Lippen zum ersten Mal einen Mann geküsst hatten, versank sie immer mehr im Gefühl einer einst gelebten Zeit, welche schon längst die Namen ehemals Bekannter aus ihrer Erinnerung gewaschen hatte, aber deren Gesichter, manchmal auch nur ein Augen-Blick, erhalten blieben, in klarsichtiger Reinheit, unsterblich unvergänglich. Dann sprach sie oftmals laut mit ihrem Vater, Wilhelm Hertrich, den sie vermisste, denn, wie sie oft erzählte „so einen wie den, gab es kein zweites Mal. Nie hat er auch nur ein böses Wort gesagt, selbst wenn ich als Kind einmal schlimm gewesen bin. Er hat mich nur lange ganz still angeschaut und dann zu mir gesagt: „Heut hast mich sehr traurig gemacht. Diese paar Worten haben mir mehr weh getan, als die Schläge mit der Rute der Schwiegermutter, die mich gehasst hat. Meine Mutter starb ja bald, sie war sehr lange sehr krank. Bevor sie starb hat Mutti einen Brief an den Hertrich-Opa geschrieben. Ich habe ihn Jahre später, als Vater schon längst gestorben war, erst gelesen. „Um die Eleonore sorg ich mich nicht, die wird schon ihren Weg machen, aber um die Anni, um die mach ich mir große Sorgen. Was soll nur aus ihr werden?“ Immer wenn Großmutters Gedanken sie in eine schon längst gelebte Zeit riefen, Gedanken, die  in ihrem Kopf immer mehr zu ihrer einzigen, ersten und letzten Wirklichkeit wurden, leuchteten ihre kleinen Augen, die in einer Operation, als sie bereits fünfundachtzig Jahre war, den grauen Star doch noch besiegt hatten. Dann fühlte sie sich wie früher und sie tanzte ausgelassen mit den Burschen der Stadt, mit denen sie an Sonntag Nachmittagen auf ein Butterbrot und ein Glas Himbeersaft zur Krepat Antsch, zur Waldschenke, spaziert war. “Beim Karbrunnen vor der Kirche haben wir uns getroffen, eingehängt sind wir durch den Schwibbogen marschiert, den Hohlweg hinauf, durch das Zehetholz geschlendert und haben deutsche Lieder gesungen. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen! Ein jeder war begeistert von was sich da über der Grenze abgespielt hat, von dem Wirtschaftswunder bei denen im Deutschen Reich. Seitdem der Hitler dort Reichskanzler war, ging es ihnen richtig gut. Hier in Österreich gab es ja für fast niemanden eine Arbeit und keiner hatte Geld. Natürlich wollten wir alle, dass es uns wie denen drüben in Deutschland geht. Ich bin ja in Hof an der Saale, in Bayern geboren, also eine gebürtige Deutsche obwohl mir das immer egal war, außer wen der Fritz und ich uns im Fernsehen ein Fußballspiel angesehen haben. Ländermatch: Österreich gegen Deutschland. Da hab ich schon zu den Deutschen geholfen”, sie musste laut lachen aus diese, in den Tiefen ihrer Erinnerung versenkten Gedanken, an die Oberfläche ihres Bewusstseins aufstiegen. “Ja der Hitler, man hat ja damals nicht ahnen können, dass der einen Weltkrieg anfangen würde. Obwohl, das muss man schon der Fairness halber sagen, der hat schon auch einiges richtig gemacht, weil wie der Führer endlich im 38er Jahr auch zu uns gekommen ist, da gab es keine Arbeitslosen mehr. Jeder mußte etwas arbeiten.“ Nach ein paar in Stille versunkenen Augenblicken schwebte ein Erinnerungsfetzen vorbei und sie griff ihn auf und erzählte laut lachend. “Gesungen haben wir zur Gitarre, frei haben wir uns gefühlt und Geld hatten wir fast keines, aber glücklich waren wir!” Ihre grauen Augen funkelten im metallenen Schein ihrer künstlichen Linsen im Spiegel der Vergangenheit. Der Oma erzählte das Kind alles: Von den Raufereien in der Schule, die er alleine auszustehen hatte, vom ersten Liebeskummer und den täglichen Streitereien mit der Mutter. Großmutter wußte das Kind zu trösten, erteilte Ratschläge und linderte jeden Schmerz mit Apfelstrudel, Pudding mit Schlagobershäupchen, einem Backblech voll mit Tiramisu oder frischgemachtes und noch lauwarmes Rhabarberkompott. In späteren Jahren als manchmal Debatten über Jörg Haiders Aufstieg zum Vizekanzler in emotional aufgeheitzte Streitgespräche ausarteten, kühlten Palatschinken in Vanillesauce zuverlässig die erhitzten Gemüter. Am Tag von Großvaters Begräbnis verkündete Oma bei der anschließenden Zehrung in Schatzls Gasthaus lautstark, betäubt von Schnäpsen und dem Schmerz des Verlustes ihres Ehemannes, den anwesenden Familienangehörigen und den, in Stille und Andacht speisenden Trauergästen: „Der Haider wird alles ändern, ihr werdet euch noch alle anschauen, wenn der erstmal Kanzler ist.“

Das hörte der Jugendliche und Wut stieg in ihm hoch. Wut, die ihn an seine Kindheit denken ließ, an der ihn am meisten erstaunt hat, dass sie nicht in seinem Selbstmord endete. Sein Wille zu Überleben als unbändiger Trotz der Mutter gegenüber, die sein frühes Ableben immer schon als realistische Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Er erinnerte sich an eine Kindheit aus Streitereien und Geschrei, aus Regeln und Bestrafungen. Tagelanges Schweigen und die vollkommene Abwesenheit jeglicher Gefühlszuwendung quälten und marterten den Buben so sehr, dass sich der ständige Schmerz der Leere in seinem Inneren in toxische Wut verwandelte, die auch den letzten Rest von Hoffnung und Glück zu vernichten drohte. Großmutter erkannte die Gefahr in der sich ihr Enkel befand und wußte, sie müsse sofort handeln.

Als sie wieder einmal laute Schimpftiraden aus dem Nachbarhaus vernahm stürmte sie in das Elternhaus und fragte die Mutter, die sich Mühe gab, sich nichts vom gerade erst stattgefundenen Streit anmerken zu lassen, ob ihre Kinder nicht ein wenig von ihrem frischgebackenen ausgezogenen Apfelstrudel essen wollen, der in der Küche am Fensterbrett auskühlte. Ohne eine Antwort zu er- oder abzuwarten nahm sie das Kind an der Hand und führte es in die Küche, die vom Duft süsser Äpfel erfüllt war. Bevor sie ihm ein Stück Apfelstrudel anbieten würde, ging Oma zum Küchenschrank, nahm eine alte Tasse heraus, die im Laufe vieler Jahre heißer Kaffee gelblich gefärbt und mit Sprüngen durchzogen hatte. Sie drückte dem Kind die Tasse in seine kleinen Kinderhände und erklärte ihm, dass dies eine Zaubertasse sei. Wenn er die Augen zumachen würde und sich gaaaaanz fest wünsche, dass all die Wut in ihm und der Schmerz aus ihm in die Tasse fließen und sie bis zum Rand füllen würde, dann wird dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Sie stand hinter ihm, legte ihre zittrigen Hände auf seine Schultern und erklärte ihm, dass wenn die Tasse ganz voll ist und er spüre, wie all die böse Wut, die Angst und der Schmerz aus ihm gelaufen sind, er die Tasse mit einem Karacho! auf den Boden schleudern und dabei gaaaaanz laut schreien müsse. „AAAAAAAAAAAARRRHH“, drang ein markerschütternder Schrei aus den Tiefen des Kindes, riss die Kerkertüren der Angst und der Wut aus den Angeln seines inneren Gefängnisses, in welches er sich geflüchtet hatte. Er atmete tief, schluchzte, Tränen rannen über seine Backen, als er sich in Omas Armen ausheulte und sich viel besser fühlte. Mit dem Zerschmettern der Tassen am Küchenboden war seine Wut zerborsten, seine Angst zersprungen und seine Unsicherheit zerflogen. Dank ihres genialen Einfalls und auch Dutzender in tausende Stücke zerborstenen Kaffeetassen, Häferln und Teekannen—später mussten auch Teller und selbst Tante Annis alte Salatschüssel daran glauben— widerstand das Kind dem gefühlstoten Regime der Mutter, die, als er mit vierzehn das erste Mal von zu Hause wegrannte, einsehen musste, dass ihre Erziehungsmethoden weder seinen Willen brechen, noch ihn in eine „ordentliche“ Lebensbahn zwingen konnten. Nein, Mutter würde ihn nicht brechen können, würde nicht ihren Willen an die Stelle seines herausgerissenen Kinderherzens pflanzen und niemals würde er seine Eltern lobpreisen und niemals ehren, den Vater und die Mutter, wie es der Herr und Gott zur Pflicht gemacht hat, damit er lange lebet und es ihm gut geht, in dem Land, das der Herr und Gott ihm gegeben.

Author: freakingcat
You can contact me under freakingcat@gmail.com

Leave a Reply