9/11 Berlin

Das aufziehende Sommergewitter peitscht Sturmböen durch mein Gemüt und erstickt das unendliche Warten der letzten hundert Tage in der Schwüle meiner Ungeduld. Wie lange noch? Nicht länger wage ich es wachgeschwitzte dunkle Nächte zu zählen. Dann der Moment als selbst die Zeit ich überholte und nicht länger meine Ängste und Sorgen und mögliche Unmöglichkeiten in nummerierten Listen meines Umzugs nach Berlin verstecken konnte. Einen Generalstabsplan hatte ich mir erstellt, einem Feldzug gleich. In meinen eigenen Krieg würd ich ziehen, die Fesseln meiner abgelebten Vergangenheit sprengen und mich mutig der hereinbrechenden Ungewissheit stellen. Wie oft zuvor schon hatte ich es gewagt und es dann getan, war auf und davon, geflohen in unbekanntes Land, geflohen vor mir selbst, stürzte mich in neues Leben und ließ mich mitreissen von der Kraft junger, neugeborener Tage, die mich an ferne Ufer spien. Immer wusste ich, das Ende dieser Reise liegt noch fern. Und: Es führt keinen Weg zurück. Also weiter! Auf, geht schon! dem Strom des Lebens folgen, der hinter der nächsten Biegung, vielleicht schon, ein reissender, ein wilder, ein tödlicher ist. Was kümmerte es mich!

War es die Zahl meiner gelebten Tage, das Grau meiner Schläfenhaare, das die Leichtigkeit meiner Jugendjahre vertrieb, als ich ohne Plan und ohne Geld, mich sorglos durch eine Welt treiben ließ, die mir in tugendhafter Weichheit erschienen war, als allein für den Augenblick ich lebte, Erfüllung suchte und oft auch fand.

Ich entsinne mich an damals, als ich in Calcutta meine Einsamkeit in das bettwanzengeschwängerte Bettlacken der Heilsarmee heulte. Ich fror, lag zusammengekauert wie ein Tier, am Steinboden des tibetischen Hochlandes, den Sonnenaufgang erwartend, ich…—nein! Nicht mehr ich, schon lange nicht mehr ich! Bloß Erinnerungen an ein Selbst, dass das eines jedermanns sein könnte. Aus tiefsten Träumen brülle ich noch manchmal auf: Spring! So spring doch endlich ins Kalte Nasse Unbekannte. Spring und wenn du nicht untergehen willst, dann schwimm! Oder verrotte den Rest deiner Tage in der gottlosen Illusion deines „geregelten Lebens“, das sie dir eingeredet haben und du Idiot hast ihnen auch noch zugehört. Hat das grausam schöne Lächeln Asiens dich in ihren sanften Schlaf süßen Vergessens gelullt, in dem nur die Dunkelheit eines kalten deutschen Winters im Berlin deiner Träume existiert?

Ich zähle wieder. Jeden Atemzug eines neuen Morgens, als ob es Schritte wären, die mich fortführen aus der Bequemlichkeit viel zu träger Tage, aus einer Beziehung, in der die Gewohnheit der Nähe zueinander, das wilde Feuer der Begierde und Leidenschaft erlöscht hat. Alles…all das, lasse ich zurück. Die leere Hülle eines überspannten Lebens. Ich spanne meine Flügel auf und falle.

Author: freakingcat
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