Keinen Tag länger wollte sie in dem engen Tal an der Grenze verbringen, einem Tal, welches ihr die Sicht auf die Welt nahm, ein Tal welches sie vor den Blicken der Welt verbarg und was noch viel schlimmer war: ein Tal in dem die Sonne niemals schien und deswegen ihr im Aufkeimen befindliches Wesen dazu verdammt war, ein Dasein wie ein Alpensalamander, einer Schlange oder gar einer Schleiche zu führen, unscheinbar, unbeachtet und ekelerregend unter Steinen oder Totholz vegetierend. Das Dorf in dem sie aufwuchs, lag in einer Vertiefung am Fuße hoher Dolomitfelsen und war somit ständig der Gefahr ausgesetzt, durch einen Bergrutsch oder Felssturz zurück in die Erdkruste gestampft zu werden, für meine Mutter ein Akt von Gottes Gnaden, welchen sie einem lebenslangen Dahinsiechen und harter Arbeit im vollgeschissenen Schweinestall eines im Nichts verlorenen Bergbauernhofs vorgezogen hätte. Sie musste fliehen, einen Ort finden, welcher nicht wegen seiner völligen Bedeutungslosigkeit, selbst von Gott vergessen worden war, einem Ort, der— und darin erkannte sie wahre Ursache für das unerträgliche Dilemma ihres Daseins, — nicht wie dieses miserable Kuhdorf, im äußersten Süden des südlichsten österreichischen Bundeslandes und sich damit, in ihren Augen, am äußersten Rand der zivilisierten Welt, befand. Sie wusste, dass, um sich aus der Bedeutungslosigkeit der Stätte ihrer Geburt zu befreien, sie sich von der Grenze weg bewegen musste, weg von einer an den Rand gedrängten und verdammten Existenz, hin zur Mitte,— zum Mittelpunkt der Welt, zum Zentrum, dem Herzstück und der Seele des Lebensraumes des zivilisierten Menschen und somit Ursprung des bekannten Universums, an dem alle Wege zusammenführten. Dort würde sie ein Leben führen, welches ihrer würdig war. Absolut undenkbar war es für meine Mutter, dass der Nabel der westlichen Zivilisation inmitten unzugänglicher, primitiver und roher Natur gelegen wäre, eingesäumt von Bergen, die einen natürlichen Wall bildeten, um das Land vor barbarischen Horden und allem Fremden zu schützen. Hinter diesen Bergen liegt Italien und obwohl in der kurzen Zeit, in der meine Mutter eine Schule besuchte, ihr der Dorfschullehrer verzweifelt versuchte einzubläuen, dass die Wiege der europäischen Kultur im antiken Griechenland zu suchen sei und sich danach ins Römische Reich verlagert hatte, ließ meine Mutter sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen, dass Römer, weil sie Latein, und Griechen, weil sie griechisch und Italiener italienisch sprachen, und weil das alles Sprachen waren, die sie nicht verstand, alles Fremdsprachige kategorisch abzulehnen war. Diese Kulturen fanden keinen Platz in ihrem Weltbild. „Im Zentrum der Welt wird deutsch gesprochen!“, postulierte sie und damit war die Angelegenheit für sie beendet und die Grenzen der westlichen Zivilisation abgesteckt. In den langen Stunden ihrer Einsamkeit, wenn ihr aufgetragen wurde, die einzige Kuh der Familie auf die Weide unter dem Hochwald zu treiben, besann sie sich ihres jungen Lebens, welches für sie trostlos und sinnentleert war. Vor ein paar Tagen war sie achtzehn geworden, doch niemand außer ihre Mutter fand sich um ihr zu gratulieren. Ihre älteren Geschwister hatten schon alle das elterliche Haus verlassen und sich in Deutschland oder der Schweiz mit begüterten Männern verheiratet, nur sie und Daphne, ihre jüngste Schwester, mussten noch in dem kleinen Kuhdorf ausharren. „Was, wenn kein Mann nach M. kommt und mich mit sich fortnimmt?“. Dicke Tränen von Selbstmitleid und Verzweiflung rannen über ihr Gesicht. „Eher hänge ich mich im Stall mit dem Kalbsstrick auf, als mein Leben als Bäuerin auf einem verdreckten Bauernhof zu beschließen“, schwor sie sich. „Ja, ich werde es tun, an meinem neunzehnten Geburtstag, werde ich meinem Leben ein Ende setzen!“ Sie fiel auf die Knie, faltete ihre Hände und hob sie gen Himmel. „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen“. Sie war so verzweifelt über ihren Entschluss in einem Jahr aus dieser Welt, die für sie nicht lebenswert war, zu scheiden, gebeugt vom Schmerz an den Gedanken daran und taub vor Selbstmitleid, wohl wissend, dass ihr Tod in den Augen der Menschen, deren Wege sie in ihrem kurzen Dasein gekreuzt hatte, genauso unwichtig war, wie ihr Leben, dass sie nicht bemerkte, was um sie vor sich ging. Ein Licht, glänzender und weißer als Schnee schwebte von Norden her über den Wald hin und hatte „die Gestalt eines durchsichtigen Jünglings, leuchtender wie ein von Sonnenstrahlen durchdrungener Kristall“. Mit einem Male wurde sie dieses himmlischen Lichts gewahr, welches sie trotz seiner Helligkeit nicht blendete, sondern ihr gemartertes Herz mit einem Wohlgefühl und mit Liebe erfüllte, etwas das sie noch niemals zuvor gefühlt hatte. „Verzweifle nicht, mein Kind“, begann die Lichtgestalt zu sprechen, „denn ich habe deine Wehklagen gehört. Noch hast du deinen Platz in dieser Welt nicht gefunden. Vertraue mir und folge meinen Zeichen und ich werde dich führen.“ Dann begann die heilige Mutter Gottes, denn es konnte keinen Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit ihrer Existenz geben— obwohl Zweifler das helle Licht, dem Schein der Sonne und die Worte, die meine Mutter in ihrem Kopf hörte, einer Täuschung ihrer Sinne, zuordneten— ihr drei Prophezeiungen zu offenbaren, die ihr Leben vollkommen verändern würden. Nachdem sie die Worte der unbefleckten Jungfrau Maria empfangen hatte und ihr zum Lob ein „Ave-Maria“ und ein „Vaterunser“ angestimmt hatte, verschwand die Lichtgestalt so plötzlich, wie sie erschienen war und wurde wieder zu der nachmittäglichen Sonne, die an diesem schönen Juli Tag mit fast schon hochsommerlicher Hitze schien. Meine Mutter fühlte die Erschöpfung, die für sie ohne Zweifel göttlichen Ursprungs sein musste und weder ein Sonnenstich noch ein Hitzschlag sein konnte. Sie stand sie auf, nahm die Rute und trieb die Kuh, so schnell diese bereit war zu gehen, von der Weide, um ihrer Mutter, welche sie im Stall antraf, von dem Wunder der Offenbarung zu erzählen. Ihre Mutter, meine zukünftige Großmutter, war eine gottesfürchtige Frau, die allabendlich, manchmal für Stunden, in der kleinen Küche vor ihrem Hausalter niederkniete und den Rosenkranz betete. In ihren Gebeten, die sie an Jesus Christus, unseren Heiland und Erlöser richtete, klagte sie über die Schwere ihres Loses und über die täglichen Schmerzen, welche ihr Ehemann, ein gewalttätiger Alkoholiker, ihr zufügte, wenn er betrunken heimkam und sie grundlos schlug und auch nicht vor ihren Kindern, welche sie so gut sie konnte, versuchte zu beschützen, innehielt. Sie flehte zu Gott, er möge ihr den Grund zu verstehen geben, warum sie, gerade sie, so hart geprüft wurde, doch selbst der Priester, dessen Predigten sie jeden Sonntag aufs innigste lauschte, wusste keine Antwort. Vielleicht wurde jetzt, durch M., ihre zweitjüngste Tochter, welche sich zwar weder durch eine übermäßige Intelligenz, noch durch Fleiß oder sonst eine Charaktereigenschaft, von ihren anderen Kindern hervorhob, ihr Klagen erhört und Gott sandte ihr durch ihr Kind ein Zeichen. Sie nahm die vor Aufregung zitternden Hände ihrer Tochter in die ihren und sprach: „Meine geliebte Tochter, wie froh bin ich, dass Gott meine Gebete erhört hat und dir die Heilige Jungfrau Maria schickte. Ich will ihre Worte hören, doch jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür. Warte bis heute Abend, wenn Vater im Wirtshaus ist, dann sind wir zwei ungestört, um die Botschaft Gottes zu empfangen.“ Und so war es, dass sich abends um acht, meine Mutter in der Küche einfand, wo meine Großmutter, vor dem Hausaltar auf Knien auf sie wartete, und sie aufforderte, mit ihr den Rosenkranz zu beten, einer Forderung welche meine Mutter, wenn auch widerwillig und voller Ungeduld, nachkam. Als sie sich zum Abschluss des Gebetes dreimal bekreuzigten und meine Großmutter das Kreuz vom Altar nahm und von meiner Mutter verlangte die Füße des gekreuzigten Sohn Gottes zu küssen, war endlich die Zeit gekommen um die Prophezeiungen zu verkünden. Im Schein der Altarkerzen begann meine Mutter langsam zu sprechen, um jedem ihrer Worte Nachdruck zu verleihen. „Unsere Liebe Frau zeigte mir die Welt, wie sie ist, flach wie eine Scheibe um die sich ringsherum eine hohe Eiswand in den Himmel erhebt. Diese Scheibe schwebt über einem großen Feuermeer. Eingetaucht in dieses Feuer sah ich die Teufel und die Seelen, als seien es durchsichtige schwarze oder braune, glühende Kohlen in menschlicher Gestalt. Sie trieben im Feuer dahin, empor geworfen von den Flammen, die aus ihnen selber zusammen mit Rauchwolken hervorbrachen. Sie fielen nach allen Richtungen, wie Funken bei gewaltigen Bränden, ohne Schwere und Gleichgewicht, unter Schmerzensgeheul und Verzweiflungsrufen, die einen vor Entsetzen erbeben und erstarren ließen. Die Neugierde des Menschen ist der alleinige Grund für den Fall aus dem Paradies und darin liegt die Schuld, die große Schuld derjenigen, welche den Glauben an Gott verlieren und somit Zweifel und Verwirrung die Tür öffnen. Wen ein Mensch so töricht sei, und von Neugier oder Entdeckergeist getrieben, versuche den Rand der Welt zu erreichen, der wird in ein bodenloses Nichts fallen, in dem die Seelen derer, die an der Allmächtigkeit Gottes zu zweifeln wagen, für alle Zeiten die schlimmsten Qualen ertragen mussten.“ Dies war die erste der drei Prophezeiungen, welche meine Großmutter in ihr kleines Katechismus Büchlein schrieb, das sie aus der Tischlade unter ihrem Hausalter hervorgeholt hatte. Nach einer andächtigen Pause, um den Eindruck der Worte der göttlichen Verkündigung, ins Dramatische zu steigern, fuhr sie fort, die zweite Prophezeiung zu verkünden: „Nachdem ich die Hölle gesehen hatte, wohin die Seelen der armen Sünder kommen, zeigte mir die unbefleckte Jungfrau den einzigen Weg, um sie zu retten. Sie will, dass die Menschen zum Lobe Gottes, eine Andacht an ihr unbeflecktes Herz gründen. Wenn sie tun, was sie sagt, wird materieller Wohlstand über die Menschheit kommen und sie werden einander begegnen in Achtung zueinander und ihr Name wird Gott preisen. Wenn sie aber nicht aufhören, Gott zu beleidigen, Zweifel an der Wahrheit seines geheiligten Wortes hegen und Irrlehren über die Welt verbreiten und so die gottgewollte Ordnung in Frage, stellen, dann wird der Heilige Vater viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden und große Armut wird über die Welt kommen.“ Geschockt vom Inhalt der zweiten Prophezeiung, bekreuzigte sich meine Großmutter, küsste das silberne Kreuz, welches sie an einer Kette um ihren Hals trug und blickte meine Mutter stumm, beinahe ungläubig an. Meine Mutter erhob ihre Stimme von neuem: „Sorge dich nicht, liebes Kind, denn ich bin des Muttergottes, die zu dir spricht und dich bittet, meinem Zeichen zu folgen und mir dein Leben zu unterwerfen. Du wirst dabei stark angefeindet werden, selbst von Menschen, die dir nahe stehen und versuchen werden, die Werte, denen du dein Leben opfern wirst, und die das Fundament der starken und unveränderlichen Kirche Gottes sind, zu zerstören. Wenn dies geschieht, wirf dich auf deine Knie und richte dein Gebet an mein jungfräuliches Herz. Ich werde dir beistehen, wenn ich dir sage: Die Menschen müssen sich bessern, müssen ihren Glauben wiederfinden und ihren Platz in der göttlichen Ordnung kennen. Sie müssen Buße tun und um die Vergebung ihrer Sünden flehen. Nur so können sie umkehren von einem Leben der Rebellion gegen die unabänderlichen Gesetze Gottes sich abwenden von Lastern und Ausschweifungen ihres Fleisches und Geistes. Sie müssen ihre Worte weise wählen, denn auch wenn sie von Wahrheit sprechen, wenn sie Kunde von dem Bösen in der Welt tun wollen, mit der irregeleiteten Absicht, anderen Sündern den Weg des Heils zu zeigen, ist es nicht ihr Ruf dies zu tun. Manchmal ist es besser, die Vergangenheit dem Schweigen anheim fallen zu lassen, als ein falscher Prophet Gottes zu sein.“ Tränen füllten die Augen meiner Mutter. Sie hielt inne, nahm die Hände meiner Großmutter und fuhr fort: „Dies war die dritte Prophezeiung der Heiligen Jungfrau. Sie gab mir auch eine persönliche Nachricht. Schreib diese nicht nieder, denn diese ist nur für mich bestimmt und nicht für die Augen der Welt“. Die Großmutter legte den Bleistift beiseite und starrte sie mit offenen Mund an. Stille machte sich in der kleinen Küche breit, getragen von dem Schweigen der beiden Frauen, die wieder vor Hausaltar niedergekniet waren. Inbrünstig betete meine Großmutter den Rosenkranz, während meine Mutter, noch zitternd von der Kraft der soeben verkündeten Worte der Heiligen Jungfrau, hin und hergerissen war, ob sie die persönliche Nachricht mit ihrer Mutter teilen, oder Schweigen bewahren sollte. Die Stille wurde durch die Frage meiner Großmutter beendet: „Was hat die Gottesmutter dir gesagt?“ „Ich weiß nicht, liebe Mutter, ob ich darüber sprechen sollte, denn die Mutter Gottes sieht und weiß alles.“ „Nur du kannst dies entscheiden, hör was dir dein Herz rät, liebste Tochter“, antwortete meine Großmutter. Nach einiger Zeit stillen Wartens begann meine Mutter in einem Flüsterton zu sprechen. „Mein Kind. Ich habe dich auserwählt, denn dein Leiden ist groß, die Schmerzen, welche du und deine Geschwister und selbst deine gottesfürchtige Frau Mutter erfahren mussten, so stark, das Verbrechen deines Vaters, der die Unschuld eurer Leiber geraubt und in Sünde Kindeskinder …“ Mit einem Male verfinsterte sich der Raum, das Licht der Altarkerzen begann zu flackern, als ob der Heilige Geist auf sie niederkam. Großmutter sprang auf und fuhr ihre Tochter lautstark an. „Kein Wort will ich mehr hören! Niemals darfst du auch nur ein Wort aussprechen, was dir die Gottesmutter im Vertrauen gesagt hat. Diese Nachricht ist nur für dich bestimmt. Niemand darf jemals von dem unsäglichen Leid und der Schande die über unserer Familie liegt, erfahren. Darüber haben wir zu schweigen. Die Wahrheit würde nur noch mehr Leid bringen und die Familien deiner Geschwister auf ewig zerstören. Du darfst niemanden— und das versprich mir auf dein Seelenheil— von der Nachricht der Heiligen Jungfrau erzählen. Du wirst weggehen von diesem Ort, so wie deine Geschwister schon alle fortgezogen sind und ihre Familien gegründet haben. Ich verspreche dir, dass ich, deine Mutter, dir helfen werde.“ Mutter und Tochter fielen sich, vom Schmerz dieser Worte gebeugt, in die Arme und weinten bittere Tränen. Und es kam es genau so, wie die Vorsehung bestimmt hatte, dass es kommen werde. Als der Winter ins Tal zog und dunkelgraue Tage mit sich brachte, musste meine Mutter die Hoffnung begraben, ein Sommerfrischler könne sich in das Dorf verirren und sie aus dem Sumpf ihres tragischen Daseins in das ewige Glück der Ehe zu führen. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie damit, getrübt aus dem Fenster auf die weiße Leere der Schneelandschaft zu starren. Sie weigerte sich zu essen und sprach nur das nötigste. Der Rosenkranz, den ihr ihre Mutter in die Hand gedrückt hatte, mit der Aufforderung, jeden Tag für das Unbefleckte Herz der Mutter Gottes zu beten, blieb unangetastet. „Was, wenn die Erscheinung der Heiligen Maria nur ein Trick meiner Sinne war?“„Werde ich niemals einen Ehemann finden, der mich aus diesem verdammten Kuhdorf errettet?“. Sie dachte an ihren Entschluss, ihrem Leben, an ihrem nächsten Geburtstag, der in einem halben Jahr sein würde, ein Ende zu setzen. „Sie werden meinen leblosen Körper, an einem Kalbstrick baumelnd, im Stall finden und es dann wird ihnen leid tun“, seufzte sie. Obwohl sie nichts von dem dunklen Vorsatz ihrer Tochter ahnen konnte, fiel es ihrer Mutter schwer, die Traurigkeit in ihren Augen und die zunehmende Verwahrlosung— sie hatte sogar aufgehört sich zu waschen oder saubere Kleidung anzuziehen— länger zu ertragen und so fasste sie einen kühnen Plan. Am Abend, als sie alleine waren und einen Bohneneintopf aßen, erzählte sie ihr davon. „Du hast recht, es ist schwer, dass du einen Mann findest, wenn du nur im Dorf auf ihn wartest“, begann sie ihre Ansprache. Sie wusste, dass ihre Tochter recht hatte. Selbst im Sommer, wenn es hin und wieder vorkam, dass ein Tourist in seinem teuren Auto, seinen Heimweg vom Urlaub, den er am Presseggersee oder mit Wanderungen durch das szenische Drautal verbracht hatte, über die Windische Höhe wählte, um vom Pass einen letzten Blick auf das wunderschöne Kärnten zu werfen, am Dorf vorbeifuhr und winkend, einen letzten Gruß der auf der Wiese mit der Heuernte beschäftigten Landbevölkerung zukommen lies, hielt niemand an. Niemand bemerkte den verzweifelten Blick in den Augen meiner Mutter, die jedem Auto sehnsüchtig nachsah, wie es in der Ferne entschwand. Sie war unsichtbar und vergessen in einem Tal an der Grenze. „Wenn die Männer nicht zu dir finden, dann musst du dorthin gehen, wo du sie finden kannst“, fuhr sie fort. „Ich habe den ganzen Sommer über ein wenig Geld gespart und werde es dir geben, damit du einen Tag rauf aufs Nassfeld fahren kannst. Dort kommen viele Schitouristen hin. Es wird dir gut tun, für einen Tag aus dem Dorf heraus zu kommen.“ „Aber …“, wollt meine Mutter einwerfen, doch Großmutter duldete keinen Widerspruch. „Nichts, aber! Es ist entschieden. Besser du bekommst das Geld, als dass Vater mein Portemonnaie entdeckt und alles im Wirtshaus versäuft.“ Auch wenn ein eintägiger Schiausflug meiner Mutter nur eine minimale Chance bieten würde, um den Mann ihrer Träume zu finden, fühlte meine Großmutter dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Als die letzte Heuernte des Sommers eingebracht worden war, kam der Sohn des Loibl Bauern vorbei, unter dem Vorwand, dass sie gerade eine Sau geschlachtet hätten, schenkte der Großmutter ein großzügiges Stück Speck und fragte sie nach meiner Mutter. Jeden Sonntag hatte er sie in der Kirche wie gebannt beobachtet doch alle Versuche ihr schöne Augen zu machen, wurden ignoriert. Meine Großmutter wusste, dass sie es ihrer Tochter nicht antun konnte, dem Sohn des Loiblbauern ihre Hand zu versprechen, da er den Jähzorn und die Gewalttätigkeit seines Vaters geerbt hatte und ihr Martyrium, welches sie seit klein auf durch ihren leiblichen Vater hatte erleiden müssen, fortführen würde. Obwohl meine Mutter noch nie zuvor auf Skiern gestanden hatte und einen außerordentlichen Widerwillen hatte, sich zum Schi fahren auf einen Berg, der für sie Teil der verabscheuungswürdigen Natur war, hielt sie dies nicht davon ab, ihr Schicksal herauszufordern, denn was hatte sie schon zu verlieren? Die Skier wurden vom Sohn des Krauter Franzl ausgeborgt, warme Kleidung, Hose und Handschuhe erhielt sie von ihren Schwestern. Ihre Haare wurden geschnitten und zu einem Bienenkorb aufgetürmt, welcher der Mode der späten sechziger Jahre entsprach. Sie war bereit für den großen Tag. Vor Aufregung konnte sie nicht schlafen und wachte noch vor Sonnenaufgang auf, um sich zu waschen, zu schminken, ihren Haarturm mit Haarspray zu fixieren und die frisch gewaschene Schneekleidung anzuziehen. Franz, ihr Bruder half ihr die Skier zu dem Bus zu tragen, wo ihre beste Freundin, die sie hatte überreden können, sie zu begleiten, schon auf sie wartete. Zu zweit, aufgeregt, doch in guter Laune, schworen sie sich auf der einstündigen Busfahrt, die Gunst dieses Tages zu nutzen, und nicht ohne einen zukünftigen Ehemann vom Berg herunterzusteigen. Da sie beide noch niemals zuvor auf Skiern gestanden hatten, beschlossen sie, dies auch erst gar nicht zu versuchen und sich mit der Bahn auf den Berg hinaufbringen zu lassen um dann zu Fuß zu Plattner´s Einkehrgasthaus abzusteigen, um auf der Sonnenterrasse den hungrigen Touristen aufzulauern. Meine Mutter war sich ihrer sexuellen Ausstrahlung bewusst, die durch den von ihrer Freundin geborgten Büstenhalter, ins Unwiderstehliche gesteigert wurde und platzierte sich, strategisch klug gewählt, direkt neben dem Eingang. Sie bestellten beide Tee und räkelten sich in den wärmenden Strahlen der Wintersonne. Meine Mutter erinnerte sich in diesem Moment an die Prophezeiungen der Heiligen Jungfrau, welche sie bis jetzt nur mit ihrer Mutter geteilt hatte, da sie Spott und Hohn fürchtete. Wer außer ihrer strenggläubigen Mutter würde ihr schon Glauben schenken, dass sie von Gott auserwählt und dazu bestimmt worden war, um großes in ihrem Leben zu verbringen. Gerade sie, die wie ein Mauerblümchen im Tal des Vergessens dahinvegetierte und auf sehnsüchtig auf ihren Retter wartete. Dieser musste aber erst einmal kommen und er durfte weder zu jung, noch zu alt, weder verlobt noch verheiratet sein, musste einen gewissen Grad von Wohlstand aufweisen und, was für meine Mutter das wichtigste war, ein richtiger Stadtmensch sein. Es war ihr egal, wie ihr zukünftiger aussah, ob er dicklich war oder von kleinem Wuchs, ob er eine Glatze hatte, oder behaart war wie ein Bär. Natürlich wünschte sie sich einen feschen jungen Mann, aber Aussehen, stand für sie nicht an erster Stelle. Die Funktion ihres zukünftigen Angetrauten bestand darin, sie zu sich in die Stadt zu nehmen, zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen und sie so zu Ansehen und Wohlstand zu bringen. Als der Nachmittag sich langsam zu Ende neigte und der Andrang der hungrigen Gäste nachließ, wich auch die hoffnungsvolle Erwartung der beiden Frauen, heute den Mann ihres Lebens zu treffen. Genau in diesem Moment spazierte eine kleine Gruppe von jungen Männern, alles Freunde aus G. in Oberösterreich, die, ohne weibliche Begleitung, über das Wochenende, nach Kärnten gefahren waren, um sich an waghalsigen Abfahrten durch frisch gefallenen Pulverschnee und des wunderbaren Wetters zu erfreuen. Sofort nahmen meine Mutter und ihre Freundin die, den ganzen Tag lang fest eingeübten Rollen, wieder auf und gaben vor, in eine heitere Konversation vertieft zu sein, die meine Mutter durch mehrmaliges und viel zu lautes Lachen durchbrach, um die Aufmerksamkeit der Männerrunde, die sie aus den Augenwinkeln beobachtete, auf sich zu ziehen. Der Erfolg stellte sich bald ein, als sich die jungen Männer an einen Tisch direkt neben ihren Sonnenliegen, setzten. Es dauerte nicht lange, bis ein junger Herr zu ihnen kam, sie grüßte und sich als Karl vorstellte. Er lud die beiden Damen ein, sich an den Tisch zu gesellen und einen Jagertee mit ihnen zu trinken. Meiner Mutter ekelte es vor Jagertee, aber sie war geschickt, vorzugeben, jeden Schluck zu genießen Währenddessen versuchte sie durch geschickte Fragestellung herauszufinden, wer von den jungen Männern noch nicht an ein Frauenzimmer vergeben war. Es stellte sich bald heraus, dass nur U. in Frage kam, da dieser, wie Karl, nicht ohne Hohn und spöttischem Unterton erzählte, vor ein paar Monaten von seiner langjährigen Freundin, die er vor hatte zu heiraten, versetzt worden war, oder wie er es ausdrückte „mit einem anderen Mann eingetauscht wurde“. U. war die Offenlegung seiner gescheiterten Beziehung, welche ihm sein letztes bisschen Selbstbewusstsein gekostet hatte, aufs äußerste peinlich. Doch als meine Mutter erfuhr, dass er der einzige Sohn und somit Alleinerbe des Kaufhauses seiner Eltern war, in dem er auch angestellt war, und sich dieses noch dazu in einer Kleinstadt in Oberösterreich befand, wusste meine Mutter, dass er der richtige Kandidat war. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren, unsicher und ohne Ausstrahlung, war er dennoch ein durchaus attraktiver Mann. Er war durchschnittlich groß gewachsen, hatte breite Schultern und eine mäßige Statur, die sich durch einen kleinen Wohlstandbauch auszeichnete. Unter dem Vorwand, die sei viel zu warm, zog meine Mutter den dicken Wollpullover, der ihre üppigen Brüste verbarg, aus und setzte sich neben meinem Vater, welcher wegen der unerwarteten Reizüberflutung und der Aufmerksam die ihm plötzlich zuteil wurde, zu einer Eissäule erstarrte. In der folgenden Stunde konnte U. seinen Blick nicht von der jungen Frau abwenden, die ohne Unterbrechung sprach und zuerst noch zögerlich, dann, als der zweite Jagertee seine Wirkung entfaltete, immer unverhohlener und frecher sich selbst anpries, bis einer der jungen Männer auf die Uhr blickend meinte, sie müssen sich nun leider verabschieden, da es schon spät sei und sie noch eine lange Abfahrt ins Tal vor sich hätten. Vom Alkohol ermutigt und fest entschlossen diesen jungen Mann nicht mehr aus den Augen zu lassen, beschloss meine Mutter, gemeinsam ins Tal abzufahren. Ihre Freundin, welche kein Interesse hatte, sich das Genick zu brechen, bestand darauf allein mit der Bahn ins Tal zu fahren. Meiner Mutter war ihre beste Freundin in diesem Moment egal. Sie wusste, dass es für sie jetzt um alles oder nichts ging, selbst wenn dies den Einsatz ihres Lebens verlange. Sie schnallte ihre Skier an, schickte noch schnell ein Stoßgebet an die Heilige Mutter Gottes und stieß sich ab. Vornübergebeugt, breitbeinig und ohne jegliche Kontrolle fuhr sie in den steilen Südhang ein, dicht gefolgt von U., der untätig zusehen musste, wie sie, immer schneller und schneller werdend, über die präparierte Piste hinausschoss und ungebremst in einen Tannenbaum krachte, der sie unter einem Berg von herabstürzendem Schnee begrub. Wie eine Schneeprinzessin mit einem weißen Umhang erschien meine Mutter dem jungen Mann, der sie anbetete, als sie sich aus dem Schneehaufen befreite. Einen Augenblick später, an den sie sich ewig erinnern werden, begann mit einem zarten Kuss, die Beziehung zwischen meiner Mutter und dem jungen Mann aus G., der bald mein Vater werden würde. In dem Schneehaufen unter dem Tannenbaum, geschah für meine Mutter das Wunder, welches sie sich von der Heiligen Jungfrau Maria erhofft hatte. Sie war durch die Gnade Gottes gerettet worden und würde bald dem Tal an der Grenze und somit dem Leiden ihrer Vergangenheit entfliehen, einer Vergangenheit, die sie vorhatte, in Schweigen zu begraben.