„35“. Seit Wochen siehst du sie überall, diese verdammte Zahl, fünfunddreißig. In jeder Überschrift jedes Scheißblattes der Partei prangt der Dreck groß und unübersehbar und daneben auch noch das Staatswappen. Du kannst nicht mal an einem Schaufenster vorüber latschen, immer hockt sie irgendwo zwischen Büstenhaltern und Hüftgürteln und Katzenfutter, versteckt sich, um dir plötzlich ins Auge zu springen und ins Hirn zu dreschen: 7. Oktober 84. Die Deutsche Demokratische Republik feiert sich wieder einmal selbst. Dir kommt das Kotzen!
Heute morgen stimmt Frau Bartl, deine Mathelehrerin und eine Hundertzwanzigprozentige, die Klasse auf den Fackelzug ein. Genossin Bartl lässt uns vor dem Unterricht alle aufstehen und keift mit ihrer typischen Krächzstimme: „Für Frieden und Sozialismus, seid bereit!“. „Immer bereit“, stimmst du beinahe unhörbar in das Murmeln der Klasse ein. Dann hält sie eine langatmige Rede über die Unvergänglichkeit der sozialistischen Republik.
„Die Deutsche Demokratische Republik wird nicht nur 35 Jahre existieren, nein, sie wird ewig währen!“, schrillt ihre Stimme in deinem Kopf.
„Genauso wie das tausendjährige Reich“, denkst du dir.
Dann folgen die Anweisungen für den Fackelzug am Abend.
„18.00 Uhr Treffpunkt Hans-Beimler-Straße, in sauber gebügeltem Hemd und dem korrekt gefalteten roten Thälmann-Pionier-Tuch um den Hals.“
Sie hält einen Augenblick inne und lässt ihren Blick über die Klasse schweifen.
„Es herrscht Anwesenheitspflicht!“
„Mist“, denkst du dir.
Du hast null Bock 80.000, aus der ganzen DDR zusammengekarrten Vorbildsschleimern, in ihren lächerlichen blauen FDJ-Hemden, fähnchenschweifend „Frieden, Freundschaft, Solidarität“ plärrend und „die Internationale“ singend, zuzuwinken, wenn sie an der Ehrentribüne vorbeiziehen, um der bescheuerten Rentnerbrigade Honecker & seinen halbtoten Kameraden, zum 35. Staatsgeburtstag zu gratulieren.
In der Mittagspause schleichst du dich auf den Pausenhof, wo sich hinter den Müllcontainern die Raucher treffen, meist Schüler der höheren Klassen, um heimlich eine Cabinet oder die viel herbere und coolere Karo ohne Filter zu paffen. Schon seit ein paar Wochen kommst du ein paarmal die Woche vorbei, um dir eine Zigarette abzuschnorren und zur „coolen Raucherclique“ zu gehören.
„Sag mal, Kalle, gehst du heut Abend zum Fackelzug?“, fragst du mit gespielter Selbstsicherheit.
„Da ha ick keen’n Bock druff“, antwortet Kalle.
„Die Bartl hat gemeint, dass Anwesenheitspflicht besteht.“
„Du machst wohl hier den Obermima, wa?“
„Nein, es ist nur…“
„Haste Bammel, Brubbelkopp?“, ätzt Kalle plötzlich unter lautem Gelächter anderen Raucher.
„Wenn du nicht zu feige dafür bist, dann komm um sechs ins Café am Leninplatz. Wir sind alle dort und zischen uns ein Bierchen!“, wirft Jens ein.
„Scheiß auf die DDR-Kacke“, ruft Sabrina.
Es läuft dir gleichzeitig heiß und kalt über den Rücken. Wenn du heute Abend nicht um 18.00 Uhr deine Anwesenheit beim Gruppenratsvorsitzenden deiner Klasse meldest, wird er dich spätestens morgen an deine Klassenlehrerin verpfeifen und das gibt dann ein ordentliches Donnerwetter. Die Bartl ist so verrückt und ruft auch noch deinen Vater an und erzählt ihm die ganze Scheiße. Der prügelt dich mit dem Gürtel so hart durch, dass du eine Woche lang nicht sitzen wirst können. Du könntest aber auch Glück haben, denn Bastian, der dieses Jahr zum Gruppenratsvorsitzenden gewählt worden war, ein Streber sondergleichen, von dem du oft die Hausaufgaben abschreibst, hat Respekt vor dir. Er ist einer jener schleimigen Pionier-Wixer deiner Klasse, der weiß, dass, wenn er dich bei der Bartl verrät, er von dir eine solche Retourkutsche zu erwarten hat, dass er besser jetzt schon anfängt, sich in die Hosen zu scheißen.
„Nah wat nun?“, will Kalle wissen. „jeht dir die Muffe?“
Für ein paar Herzschläge scheinen alle Blicke der Raucherclique auf dich zu fallen. Dir stockt der Atem, schwitzt, suchst nach den richtigen Worten. Du antwortest:
A. „Klar bin ich um sechs im Cafe! Kannst schon mal ein Bierchen für mich bestellen!“
B. „Mann, ich würd ja gerne kommen, aber wenn die Bartl mitkriegt, dass ich den Fackelzug zum 35. geschwänzt habe, dann ist die Kacke am Dampfen.“