GRIESKIRCHEN. Als die 25 jährige gebürtige Grieskirchnerin Margarete Freinberger das Arbeitsamt verlässt, hält sie eine Dienstzuweisung und eine Bahnfahrkarte in ihren Händen. Gemeinsam mit Elfriede Miningsdorfer und Elisabeth Breitenberger, die beide ebenfalls in Grieskirchen wohnhaft sind, wird sie bereits am nächsten Tag im Zug nach Ravenbrück sitzen, einem kleinen Ort etwa 90 km nördlich von Berlin. Dort werden sie sich in einem vierwöchigen Praxislehrgang für ihren neuen Job ausbilden lassen: als Aufseherinnen in einem Konzentrationslager.
Das Glück ist Margarete Freinberger, von allen nur „Gretl“ genannt, noch nie hold gewesen, weder im Leben, noch in der Liebe. Da der Krieg nun schon ins fünfte Jahr geht, fällt es der gelernten Schneiderin schwer, genug zu verdienen, um davon ihre Existenz bestreiten zu können. So wohnt sie, obwohl sie mit 25 Jahren schon längst im heiratsfähigen Alter ist, noch immer in einer kleinen Kammer im Haus ihrer Eltern in Grieskirchen.
In ihren Händen hält sie die Bewerbungsunterlagen für ihren neuen Job als SS-Lageraufseherin, die ihr das Arbeitsamt in die Hand gedrückt hat. Von einer „einfachen Tätigkeit, welche keine beruflichen Kenntnisse erfordert“, ist darin die Rede. Ihre Aufgabe sei „die Beaufsichtigung von Frauen, welche irgendwelche Verstöße gegen die Volksgemeinschaft begangen haben und nun, um weiteren Schaden zu verhindern, isoliert werden müssen.“ Immer und wieder wieder überfliegt sie diesen Absatz: „Als Reichsangestellte werden sie nach der Tarifordnung für Angestellte besoldet. Es gilt eine Probedienstzeit von 3 Monaten bei einem Verdienst von brutto 185,65 RM zuzüglich 35 RM Überstundenvergütung. Sie erhalten ferner im Lager Gemeinschaftsverpflegung, Dienstbekleidung sowie teilweise Unterwäsche. Zur Unterbringung stehen Häuser mit Dienstwohnungen zur Verfügung, die gut eingerichtet sind.“
Gretl kann es nicht glauben. Sollte sich ihr Glück endlich gewendet haben? Ihr Anfangsgehalt beträgt das Dreifache des Verdienstes einer Fabriksarbeiterin. Die freundliche Frau am Arbeitsamt hatte ihr versichert, dass sie nicht nur dem Deutschen Reich einen wertvollen Dienst erweisen würde, sondern darüber hinaus die Möglichkeit habe, bei entsprechender Eignung, bis zur Position einer Oberaufseherin aufzusteigen.
Nun darf sie endlich wieder träumen und sie träumt, der Enge ihres Elternhauses in Grieskirchen zu entfliehen, vielleicht nach München oder gar in die Reichshauptstadt Berlin. Sie träumt von einem strammen deutschen Mann, der sich unsterblich in sie verliebt, vielleicht ein SS-Aufseher oder gar der Lagerkommandant. Was weiß, was die Zukunft ihr bringen wird!
EINE FRÖHLICHE FAHRT INS KZ
Sie träumt noch, als sie am nächsten Tag in den Zug steigt, in dem sie auf eine Gruppe von etwa 25 jungen Frauen und Mädchen trifft, welche sich, teils freiwillig, teils per Dienstzuweisung, im KL Mauthausen vorgestellt hatten und nun von dort aus, in das SS-Ausbildungslager Ravensbrück unterwegs waren. Sie freundet sich mit zwei Frauen aus Grieskirchen an.
Eigentlich stammt die 30-jährige Elfriede Miningsdorfer aus Radkersburg, doch ist es in Grieskirchen, wo sie eine Anstellung als Schreibkraft im Buchführungswesen fand. Bald wurde ihr jedoch nahegelegt, sich wegen kriegsbedingter Einsparungen, nach einer neuen Tätigkeit umzusehen. Sie hat Angst, sucht nach Sicherheit in unsicheren Zeiten. Als ihr die freundliche Frau vom Arbeitsamt erklärt, dass sie als SS-Aufseherin eine Reichsangestellte mit festem Arbeitsverhältnis und Pensionsanspruch gelte, ist sie überzeugt. Sie ist sie erleichtert, eine gesicherte Anstellung gefunden zu haben.
Die Dritte im Bunde ist Elisabeth Breitenberger, geboren unter dem wohlklingenden Namen Schwämmlein. Mit 37 Jahren ist sie die älteste der drei Frauen und stammt aus dem Altreich, aus Nürnberg. Die Liebe brachte sie nach Grieskirchen, wo sie ihren Hubert heirate. Von Beruf ist sie Kontoristin, hat 8 Klassen Volksschule und 3 Jahre lang eine kaufmännische Fortbildungsschule absolviert, doch nun ist es schwer für sie auch nur irgendeine Arbeit zu bekommen.
Eigentlich werden jüngere, ledige und kinderlose Frauen als Lageraufseherinnen bevorzugt, doch seitdem auch weibliche KZ-Häftlinge zur Arbeit in den Rüstungsbetrieben gezwungen werden, um Hitler doch noch zu seinem Endsieg zu verhelfen, besteht dringender Bedarf an weiblichem Bewachungspersonal. Trotzdem erfüllt Elisabeth alle Voraussetzungen: Sie ist unbestraft, körperlich gesund und kann ein polizeiliches Führungszeugnis, Lebenslauf mit Lichtbild, sowie ein ärztliches Gesundheitszeugnis vorlegen. Sie hat auch kein Problem damit, ein schriftliches Bekenntnis zum Deutschen Reich abzugeben. Für sie ist der Job als Aufseherin in einem Konzentrationslager, eine Arbeit, wie jede andere. Ausserdem benötigt die Werksleitung der Lenzinger Zellwolle AG dringend Bewacherinnen für ihr neu eingerichtetes Arbeitslager. Da Lenzing gerade einmal 50 Kilometer von Grieskirchen entfernt ist, kann sie an den Wochenenden nach Hause fahren, zu ihrem geliebten Hubert.
Die Gruppe der jungen Frauen kommt nach einer langen Zugfahrt am Bahnhof des ehemaligen Mecklenburger Luftkurorts Fürstenberg an und spaziert am malerischen Schwedtsee entlang nach Ravensbrück, an dessen Ufer das größte Frauenkonzentrationslager des Deutschen Reichs und ihr Ausbildungsplatz für die kommenden vier Wochen liegt.
DAS ENDE DER TRÄUME
Aufgeregt und voller Erwartungen finden sich am nächsten Morgen die jungen Frauen vor der Kommandantur ein und beginnen ihre Ausbildung zu SS-Aufseherinnen mit einer Führung durch das KZ. Sie schreiten durch die Pforte für das Wachpersonal und betreten zum ersten Mal den Häftlingsbereich eines Konzentrationslagers.
Von einer Sekunde auf die andere, zerfallen ihre Träume zu Staub. Staub, wie Asche aus den Krematorien, der alles bedeckt. Staub, den der kalte Herbstwind vom Appellplatz aufwirbelt und in die, von Schmerz und Angst gezeichneten Gesichter von tausenden, zu Skeletten abgemagerten, ausgezehrten Körpern treibt, die in die zerfetzten Lumpen ihrer Sträflingskleidung gehüllt, zitternd vor Kälte und Schwäche, in Reih und Glied, zum Zählappell angetreten sind. Grimmig blickende Aufseherinnen, mit Schlagstöcken in ihren Händen und Hunden an ihrer Seite, kontrollieren dass Ordnung gehalten wird. Fällt nach teilweise stundenlangem Strammstehen ein weiblicher Häftling um, dann hetzen sie ihre Hunde darauf, die sich immer und immer wieder, in den leblosen Frauenkörper verbeißen.
Die Gruppe der Auszubildenden ist schockiert über die unhygienischen Bedingungen, wie sie im Lager herrschen. Die einfachen Holzbaracken quellen über mit zehntausenden Häftlingen, in den Krankenblöcken siechen und sterben, völlig sich selbst überlassen, hunderte an Typhus, Diphtherie, Tuberkulose, Krätze, Fleckfieber, Unterernährung oder Auszehrung. Gerade erst wurde zwischen den Baracken ein etwa 50 Meter großes Zelt aufgestellt, in dem 4.000 Frauen zusammengepfercht auf einem Ziegelfußboden kauern, denn von Hinsetzen oder Liegen, kann keine Rede sein. Sie sterben wie die Fliegen, täglich zu Dutzenden. Frauen, die ihre menschliche Gestalt verloren und zu in Lumpen gehüllten, barfüßigen Phantomen geworden waren.
Die jungen Frauen werden am Krematorium mit seinen zwei Schloten vorbeigeführt, das gerade erweitert wird, um Berge von aufgestapelten Leichen in Asche zu verwandeln, Asche, die einfach in den malerischen Schwendtsee gekippt wird. Der Geruch von verbranntem Menschenfleisch, von Krankheit, Seuchen und Tod durchzieht das gesamte Lager. Elisabeth kämpft mit den Tränen, als sie die Todesfurcht und Verzweiflung sieht, die sich in den Augen der Frauen und Kinder spiegelt, an denen sie wortlos vorüberschreitet. Angsterfüllte, bangende Augen, die sie fragen, wie lange es dauern wird, bis aus den jungen Buchhalterinnen, feschen Schneiderinnen, fleißigen Putzfrauen und karriereorientierten Sekretärinnen, brutale SS-Aufseherinnen werden, Herrinnen über ihr Leben und ihren Tod.
Früher, bevor die Nazis unter dem begeisterten Jubel der Massen, auch in Österreich, die Macht an sich reißen und der großdeutsche Massenwahnsinn alles und jeden erfasst, da glaubte Elfriede noch an Gott. Danach glaubt sie an Adolf Hitler und sein Tausendjähriges Reich. Selbst als der Krieg über das Land kommt und Bomben vom Himmel regnen, zweifelt sie nicht am Endsieg des deutschen Volkes. Sie ist stolz darauf gewesen, als SS-Aufseherin, eine Angestellte des Deutschen Reichs zu werden, bis— ja bis, sie mit ihren eigenen Augen sieht, zu welchen unbeschreiblichen Gräueltaten die nationalsozialistische Vernichtungsmachinerie fähig ist. Nun gehört sie zum SS-Gefolge, nun ist sei Teil eines völkermordenden, barbarischen Systems. „Eine einfache Bewachungstätigkeit ohne besondere Kenntnisse und mit Pensionsanspruch“, hatte man ihr versprochen. Nun liegt es an Elfriede zu entscheiden, ob sie morgen bei der Kommandantur ihr Kündigungsschreiben einreichen und zurück nach Grieskirchen fahren wird.
Gretl hat aus ihrer Begeisterung für das Deutsche Reich nie ein Geheimnis gemacht. Zwar ist sie weder Mitglied der NSDA, aber war ein begeistertes und sehr engagiertes Mitglied im BDM. Als am 12. März 1938, deutsche Soldaten die Grenze zu Österreich überschreiten, steht sie in der ersten Reihe am Grieskirchner Stadtplatz und jubelt den Befreiern zu. Margarete will nicht länger nur die „Schneider Gretl“ sein, sie will frei sein, sich aus der Mittelmäßigkeit und Unbedeutendheit ihres Kleinstadt-Daseins befreien und Teilhaben an der großen deutschen Idee, die die Welt verändern soll. Im Ausbildungskurs hört sie das erste Mal von der Weltverschwörung der Juden gegen das deutsche Volk. Persönlich hat sie nichts gegen Juden, sie kennt ja auch keinen, denn in Grieskirchen, da gibt es keine Juden, zumindest keinen, dem sie jemals begegnet war.
Die auf Hochglanz polierten Stiefel verleihen ihrer feldgrauen Uniform ein elitäres Aussehen, das Käppi in Schiffchenform sitzt schmissig auf ihrem geföhnten Haar, ein unter den Arm geklemmter Ochsenziemer dient als Schlagstock und äußeres Zeichen ihrer uneingeschränkten Autorität. Gemessenen Schrittes stolziert sie die Lagerstraße entlang. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie die Häftlinge. Angsterfüllt, erstarrt, senken sie respektvoll ihren Blick. In diesem Moment weiß Margarete Freinberger, dass sie nicht länger die Schneider Gretl aus Grieskirchen ist, sondern sich, aus eigener Kraft und durch eisernen Willen und Disziplin, aus der Durchschnittlichkeit, der ihr so verhassten, anonymen Masse, erhoben hat und zu jemandem wurde, den man strammgestanden als „Frau Aufseherin“ zu grüßen hatte.
Die Tage der Ausbildung in Ravensbrück vergehen rasch. Im kurzen Einführungslehrgang werden die weltanschaulichen und nationalpolitischen Ansichten der Frauen mit den Vorgaben des NAZI Systems abgestimmt. Im Fach „Dienstkunde“ wird ihnen das organisatorische und theoretische Wissen der Lageraufsicht vermittelt. In Praxisübungen, die unter dem gestrengen Auge der vorgesetzten Ausbildnerinnen stattfinden, wird festgestellt, wer von den Kursteilnehmern die nötige Eignung, Disziplin, Härte und die Fähigkeit erbringt, selbst in Situationen höchster psychischer Belastung, sich vollkommen emotionslos zu verhalten. Gegen Ende ihres vierwöchigen Ausbildungskurses werden die jungen Frauen einer besonderen Eignungsüberprüfung unterzogen.
Während des Appells werden einige Häftlingsfrauen willkürlich aus der Masse herausgepickt und müssen vortreten. Die Ausbildnerin wendet sich der Gruppe der jungen Auszubildenden zu und erklärt ihnen ihre Aufgabe: Jede von ihnen soll sich eines der „Schmuckstücke“, wie die ausgehungerten, verschmutzen und zum Skelett abgemagerten weiblichen Häftlinge im Lagerjargon genannt werden, aussuchen und sie mit der Peitsche schlagen.
Zögern paart sich mit blankem Schrecken in den Augen der jungen Frauen, von denen die meisten gehofft hatten, durch die vier Wochen ihrer Ausbildungszeit zu kommen, ohne dieselbe Brutalität, die sie täglich an den Aufseherinnen in Ravenbrück sehen, selbst ausüben zu müssen.
Wortlos tritt Margarete vor. Wortlos nimmt sie die hingehaltene Peitsche. Ihr Blick ist starr nach vorne gerichtet. Nicht länger sieht sie das fünfzehnjährige jüdische Mädel, welches vor ihr wie Espenlaub zittert, als ein menschliches Wesen, als ein Mädchen, welches einmal einen Namen hatte, eine Familie und Eltern, die es liebten. Ein verschmutztes, von Läusen durchsetztes, stinkendes und krankes, in zerfetzten Lumpen gehülltes Bündel hebt ihre knochendürren Arme, mit der eintätowierten Häftlingsnummer, das letzte verbliebene Zeugnis ihrer Existenz, vor das Gesicht. Aufseherin Freinberger schlägt zu. Die Peitsche zerreißt die dünne Haut des vor Scherzen brüllenden Mädchens. Immer und immer wieder schlägt sie zu, bis sich das magere Fleisch von den Knochen löst und das Blut den Staub des Lagerbodens dunkelrot tränkt. Jeder Schlag ist ein Schlag der Befreiung für Margarete. Jeder Schlag bringt mit sich den prickelnden Rausch grenzenloser Macht, Macht an der sie immer mehr Gefallen findet.*
EINE FRACHT JUNGER FRAUEN
Ein Vertreter der Lenzinger Werksleitung wartet auf dem Bahnsteig auf die Ankunft des Zuges, welcher die, von Dr. Ing. SS-Brigadeführer, Staatsrat und Leutnant d.R. a.D, Walther Schieber, in seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender der Zellwolle AG Lenzing, bestellten Arbeiterinnen, liefern soll. Der titelsüchtige Multifunktionär und Mitarbeiter im Speer Ministerium musste seine Kontakte spielen lassen, um diese Fracht direkt aus dem Konzentrationslager Auschwitz geliefert zu bekommen. Jüdinnen, hauptsächlich aus Osteuropa, die er für die gesundheitsschädliche Viskose-Herstellung benutzen will. Vier Reichsmark muss er dem KZ Mauthausen pro Kopf und Tag dafür bezahlen.
Drei Tage und drei Nächte lang war der Zug vom Durchgangslager Auschwitz II unterwegs, als er am 30. Oktober 1944 in Lenzing-Pettighofen eintrifft. Seine Fracht: fünfhundert junge Frauen und Mädchen, eingepfercht auf engstem Raum in fensterlose, dunkle Viehwaggons, ohne Nahrung, alleingelassen mit der Ungewissheit ihres weiteren Schicksals. Dr. Josef Mengele ließ es sich nicht nehmen, höchstpersönlich, arbeitsfähiges Menschenmaterial in der Form von jungen Frauen, die Walther Schieber für sein Lenzinger Werk bestellt hatte, aus der Masse der Häftlinge herauszupicken und sie von ihren Kindern, Müttern und Vätern zu trennen, die er mit nur einer Handbewegung in die Gaskammer schickt.
Als die letzte der vollkommen erschöpften und von Hunger entkräfteten Frauen aus den Waggons steigt, bemerkt der Vertreter der Werksleitung, dass die Frauen völlig ohne irgendein Gepäck angekommen waren. „Ich brauche Frauen als Arbeiterinnen für die Fabrik und habe keine Möglichkeit sie mit der nötigen Kleidung und Material zu versorgen“, beschwert er sich beim Transportführer. „Ich will diesen Transport nicht annehmen!“ Zu der Erleichterung der 500 Frauen, die fürchten, wieder in ein Konzentrationslager zurückgeschickt zu werden und erst recht in die Gaskammer zu kommen, lehnt der Transportführer seine Forderung ab. „Meine Aufgabe ist es, die Frauen nach Lenzing zu bringen, und alles andere geht mich nichts an…“, gibt er ihm als Antwort zurück.
OBERAUFSEHERIN FREINBERGER
Margarete Freinberger beginnt als „Frau Oberaufseherin Freinberger“ im neu errichteten KZ-Aussenlager Lenzing-Pettighofen ihr gestrenges Kommando. Das Deutsche Reich weiß ihren Einsatz zu schätzen und zeigte sich erkenntlich: Sie hat gezeigt, dass sie als ein perfektes Rädchen im System der Macht und Manipulation funktioniert. Sie wird Herrin über 577 weibliche Häftlinge des Mauthausen Außenlagers Lenzing-Pettighofen und Befehlserteilerin für 40 Aufseherinnen unter ihrem Kommando.
Macht durch Disziplin
Disziplin durch Härte
Härte durch Kontrolle
Deutsche Ordnung im Deutschen Reich
Tagwache ist um 4 Uhr früh, manchmal auch eine Stunde früher. Waschen, Anziehen und Frühstück. Kaffee und ein Stück trockenes Brot. Antreten in Reih und Glied zum Zählappell. 5 Uhr Abmarsch der Häftlinge zum Zellstoffwerk. Ordentlich in Fünferreihen in einem geschlossenen Zug. Zwei Kilometer, bei Eis und Schnee, in Holzschuhen ohne Socken. Macht durch Disziplin.
Sie allein teilt den Häftlingen ihre Arbeit zu: Betrieb rund um die Uhr, zu drei Schichten, für zwölf Frauen in der Viskose-Abteilung. Die Ausdünstungen, der in Säure getränkten Zellulose, legt sich auf die Lungen und zerstört das Augenlicht. Gesichts- und Mundschutz, selbst Milch zur Entgiftung nach dem Einatmen der gefährlichen Dämpfe: Für Jüdinnen, verwehrt. Disziplin durch Härte.
Strengste Bewachung für weibliche Tagesaußenkommandos durch SS-Männer und bewaffnete Aufseherinnen mit Hunden. Menschenmaterial wird für Schwerstarbeit beim Bunker- und Straßenbau, Ausheben von Panzergräben, Schnee schaufeln und Erdarbeiten eingesetzt. Härte durch Kontrolle.
Wer sich ihren Befehlen nicht bedingungslos unterwirft, für den setzt sie das Strafmaß fest. Essensentzug und Straf-stehen. Bei Fluchtversuch: Schläge und tagelang gefesselt in Einzelhaft. In der Mitte des Kopfes wird eine Bahn ausrasiert, um Frauen, die es gewagt hatten, ihrem Reich zu entfliehen, zu kennzeichnen und demütigen. Obwohl das Schlagen der Häftlinge laut Betriebsordnung keine erlaubte Strafe war, wird es immer wieder angewandt. Für die kleinsten Vergehen oder manchmal einfach auch aus der Laune einer Aufseherin heraus.
DIE VERBRECHEN DER SCHÖNEN FRAUEN
Aufseherin Stephanie ist jung und hübsch. So jung, dass sie eine Enkelin der alten Frau sein könnte, die krank auf ihrer Pritsche liegt und in einem Gebetsbuch liest, welches sie während eines Arbeitskommandos beim Räumen von Eisenbahnwaggons gefunden hatte. Sie betritt überraschend den Schlafraum, nimmt der alten Frau das Buch aus den Händen und schlägt zu. Immer wieder, bis Ohnmacht die alte Frau erlöst. Hungrig beobachtet eine polnische Gefangene, wie eine Aufseherin einen Apfel isst und das Kerngehäuse achtlos auf den Boden wirft. Sie wagt es, sich zu bücken und ihn aufzuheben, um ihn zu essen. Der Schlagstock streckt die ausgehungerte Frau nieder, so grausam und brutal, dass diese die Aufseherin bittet, sie zu töten.
Stefania Fabrykant, geborene Kluger, steht vor der Gaskammer des KZ Auschwitz-Birkenau und umklammert ihr Kleinkind. Ein grauenvoller Erstickungstod wird sie in wenigen Minuten eliminieren. Die von den NAZIS beschlossene Endlösung der Judenfrage. Doch das Schicksal lässt es nicht zu. Noch nicht. Jetzt noch nicht. Ein SS-Mann reißt ihr das Kind aus dem Arm, schleudert es in die Menge der Todgeweihten und zerrt Stefania weg. Sie schreit, sie fleht, verliert ihren Verstand.
Wochen später steht sie vor Oberaufseherin Freinberger, Lagerführer Gieseler und einem Oberscharführer. Sie wird beschuldigt, einen Akt der Sabotage begangen zu haben und von einer älteren Aufseherin in eine kleine Zelle abgeführt. Nach einer grausamen Misshandlung durch Prügel, hört sie nichts mehr. Drei Arbeitsschichten muss sie stehend in der Zelle verbringen, ohne Essen, ohne Wasser. Als sie ins Lager zurückgeführt wird, versucht sie zu fliehen, denn sie weiß, dass man sie nach Mauthausen schicken wird, wo der sichere Tod auf sie wartet. Wie ein Stück Wild wird sie von den Begleitmannschaften und ihren Hunden gejagt, eingefangen und drei Tage lang, ohne Nahrung oder Wasser, mit auf dem Rücken gebundenen Händen und gefesselten Füßen, in einen Raum für Schmutzwäsche gesperrt. Ständig prasseln Schläge auf sie ein. Ihre Haare werden kahl geschoren, denn sie hatte es gewagt, sich der totalen Kontrolle der Oberaufseherin zu widersetzen. Als Saboteurin und Verbrecherin wird sie nach Mauthausen abgeschoben.
Auch Elisabeth und Elfriede haben den Ausbildungskurs erfolgreich abgeschlossen. Auch sie kommen ins Lager Lenzing, wo sie als einfache Aufseherinnen ihren Dienst versehen.
Aufseherin Breitenberger führt jeden Tag eine Gruppe zur Arbeit und hat sie zu beaufsichtigen. Für sie, eine Arbeit, wie jede andere. „Von Misshandlungen habe sie nichts gesehen“, wird sie später zu Protokoll geben, außerdem sei „Das Essen für alle sehr schlecht gewesen.“
Elfriede Miningsdorfer ist nicht länger stolz darauf, eine Angestellte des deutschen Reichs mit gutem Lohn und Pensionsanspruch zu sein. Ihr Glaube an den Endsieg des Führers hat sich mit dem schwarzen Rauch der brennenden Toten verflüchtigt. Gott ist tot, denn was muss das für ein Gott sein, der untätig zuschaut, was Menschen einander antun. Sie hält das alles nicht mehr aus. Sie will nur mehr nach Hause.
DAS TOTENBUCH VON MAUTHAUSEN
Das Totenbuch von Mauthausen verzeichnet neun Todesfälle für das Außenlager Lenzing. Vier Häftlinge verstarben im Krankenrevier, wo die Versorgung mit Arzneien sehr dürftig war. Als Todesursachen werden Tuberkulose, Darmverschluss und Kreislaufversagen vermerkt, was in der üblichen Diktion der Lageraufzeichnungen, auf Ermordung schließen lassen könnte. Was von den Todesursachen zu halten ist, ist nicht generalisierbar – übermäßig glaubwürdig sind sie allen Erfahrungen der Historiker zufolge nicht.
Zutreffend jedoch ist die Todesursache für 5 Ungarinnen, welche am 11. Jänner 1945, durch einen Eisenbahnunfall ums Leben kamen, der, wenn schon nicht auf Absicht, so doch auf grobe Fahrlässigkeit des Bewachungspersonals zurückzuführen ist. Bei dichtem Nebel und Schneetreiben hetzt die SS-Wachmannschaft eine Gruppe von Frauen der Schneeräumtruppe vor dem bereits hörbar herannahenden Zug über die Bahngleise. „Los, los, anschließen!“. Der Zug rast in die Marschkolonne. Die erste Fünferreihe wird überfahren. Vier Frauen sind auf der Stelle tot, eine weitere erliegt ein paar Tage später im Lager ihren schweren Verletzungen. Weder die Oberaufseherin, die Lagerführung noch die Werksleitung der Zellwolle Lenzing AG sind an einer Klärung der Unfallursache oder der Schuldfrage interessiert.
DIE BEFREIUNG UND EIN BÜGELEISEN
Für Aufseherin Elfriede Miningsdorfer kommt ihre Befreiung vom Konzentrationslager bereits im Februar 1945, als sie es nicht länger ertragen kann und bei Oberaufseherin durchsetzt, dass sie wegen Krankheit in häusliche Pflege entlassen wird. Am 13. April wird auch Aufseherin Breitenberger davon verständigt, dass sie Ende April entlassen werde. „Warum, das wisse nicht.“ Schon am 28. April kehrt sie nach Grieskirchen zurück. Am 1. Mai melden sich der Rest der Aufseherinnen ab und werden vom Werk entlassen. Mit ihnen verlassen auch die SS-Posten das Lager Lenzing-Pettighofen.
Die Amerikaner sind schon so nah, doch ob sie ihre Befreiung noch erleben werden, dass wissen 562 verängstigte Frauen nicht. Im Lager hat sich inzwischen das Gerücht verbreitet, dass das Essen oder der Kaffee vergiftet und die ausgehobenen Gräben ihr eigenes Grab sind. Aus Angst essen einige Frauen tagelang nichts.
Oberaufseherin Margarete Freinberger betritt die Halle des Lagers und befiehlt in demselben eisigen Ton, in dem sie in den letzten sechs Monaten ihre Befehle erlassen hat, ein letztes Antreten zum Appell. In kurzen Worten informiert sie die Häftlinge, dass ihre Aufgabe nun beendet sei. Daraufhin verlässt sie das Lager mit dem Fahrrad, das mit ein bisschen Gepäck beladen ist. Auch ihr Bügeleisen vergisst sie nicht mitzunehmen. Die Häftlinge lässt sie auf sich selbst überlassen im Lager eingesperrt zurück.
Am 5. Mai 1945 öffnen die Amerikaner das Tor in die langersehnte Freiheit für hunderte weiblicher Häftlinge des Lagers in Lenzing. Von den Soldaten erhalten sie deren amerikanische K-Rationen, ihre erste richtige Mahlzeit seit langer Zeit. Sie haben überlebt.
GERICHT UND GERECHTIGKEIT
Keine sechs Wochen dauert nach dem Ende des Krieges die Freiheit für Oberaufseherin Margarete Freinberger. Sie wird am 18. Juni 1945 vom CIC verhaftet, ist zuerst im Aufnahmelager Mauerkirchen interniert, dann im Bezirksgericht Grieskirchen eingesperrt, hernach in den Lagern Golling und Glasenbach, wird in Dachau beim Dachau-Prozess verhört, kommt nach Ludwigsburg, wieder zurück nach Dachau und landet schließlich im Lager Glasenbach, wo sie auf ihre ehemaligen Arbeitskolleginnen trifft. Elfriede schafft es sich bis zum 30. August 1946 zu verstecken und ist bis zum 19. September im Bezirksgericht Grieskirchen in Haft bevor auch sie nach Glasenbach überstellt wird.
Nur gegen wenige der etwa 40 KZ-Aufseherinnen des KZ-Außenlager Lenzing-Pettighofen wird vor dem Volksgericht in Linz ein Verfahren eingeleitet.
Aufseherin Elisabeth Maria Kaiser aus Pregarten, in der Nähe von Linz, wird in einem anonymen, der Polizei zugegangenen Schreiben, als eine primitive und vorlaute Person, als ein richtiges „Mannweib“ bezeichnet, welches den NS-Idealen noch immer nicht abgeschworen habe und noch 100 % Nationalsozialistin sei. Im Prozess wird ihr vorgeworfen, den Arbeiterinnen keine Pausen gestattet zu haben.
Elisabeth Breitenberger aus Grieskirchen gibt während ihres Verfahrens an, sie habe jeden Tag eine Gruppe von Häftlingen zur Arbeit zu führen und zu beaufsichtigen gehabt. Für die Aufsicht im Lager selbst seien wieder andere zuständig gewesen. Von Misshandlungen habe sie nichts gesehen.
Sechs Zeuginnen belasten die Aufseherin Hermine K, die sie geohrfeigt haben soll. Aufseherinnen Ursula Abeling aus Berlin und die gerade einmal 21 Jahre alte Maria Künick, geborene Habinger, aus St. Georgen im Attergau, haben beide in der Verwaltung der Zellwolle Lenzing AG gearbeitet, bevor sie Aufseherinnen im werkseigenen Konzentrationslager wurden. Mehrere Zeuginnen belasten Maria Künick schwer, nennen sie eine „Bestie“ und machen sie für das Eisenbahnunglück, bei dem fünf ihrer Leidensgenossen starben, verantwortlich. Sie alle stimmen überein, dass sie eine der ärgsten Peinigerinnen gewesen sei und berichten von Schimpfworten, Essenskürzungen, Bedrohungen mit dem Revolver und vereinzelt auch Schlägen.
Auch gegen die Oberaufseherin, Margarete „Gretl“ Freinberger aus Grieskirchen wird nach zwei Jahren Haft im Lager Glasenbach, ein Volksgerichtsverfahren eröffnet. Gretl taucht wieder in der Anonymität der Masse unter. Sie lebt wieder als Schneiderin in Grieskirchen und zieht später nach Salzburg. Sie ist sich keiner Schuld bewusst.
Sie wollte ja nur funktionieren, nur Teil eines Systems sein, dass so viel versprach und bald darauf in Trümmern lag.
Das Verfahren gegen Margarete Freinberger wird mit Beschluss vom 14.7.1947 eingestellt und sie wird aus der Haft entlassen. Gretl taucht in der Anonymität der Masse unter. Ihre Spur verliert sich.
Sämtliche Verfahren gegen die Aufseherinnen des KZ-Außenlager Lenzing werden eingestellt. Gegen keine der SS-Aufseherinnen des KZ-Mauthausen und seiner Außenlager wurde eine gerichtliche Anklage erhoben.
Eine von den Häftlingsfrauen verlangte Entschädigung, auf Auszahlung des gebührenden Arbeitslohns für die geleistete Arbeit, laut den geltenden Tarifen, wird von der Zellstoff Lenzing AG, unter der Begründung, dass damit ein „Präjudiz geschaffen werde, welches dem Unternehmen gegebenenfalls untragbare Kosten auferlegen würde“, wird abgelehnt. Für 2.352 Arbeitsstunden von November 44 bis Mai 45 hatten die Häftlingsfrauen pro Person Forderungen von 2.117 bis 2.822 Schilling verlangt.
*Für die in diesem Absatz beschriebene Misshandlung fehlt jegliche Dokumention. Diese beschriebene Form des “Eignungstests” fand tatsächlich in einigen KZ statt. Es entspricht jedoch der schriftstellerischen Freiheit des Autors, dass Margarete Freinberger, jemals an dieser beschriebenen Misshandlung beteiligt gewesen war.
DANKSAGUNG
Der Autor dankt Univ. Prof. Dr. Roman Sandgruber, Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz, für die freundliche Bereitstellung wichtiger Informationen aus seinem Werk „Lenzing: Anatomie einer Industriegründung im Dritten Reich“
Der Autor dankt Herrn Hannes Koch für wertvolle wissenschaftliche Informationen und Erkenntnisse die Person Margarete Freiberger und das Lager Lenzing betreffend.
QUELLENVERWEISE
Prof. Dr. Roman Sandgruber „Lenzing: Anatomie einer Industriegründung im Dritten Reich“
Lenzing Pettighofen Women Slave Labor Camp, Lenzing, Austria (May 10, 1945)
https://www.youtube.com/watch?v=080yFEsS7RI
Margarete Freinberger
OÖLA, VG 8 VR 286/47, Sch. 185; OÖLA VG 8 VR 5452/47 Sch 335:3
Elfriede Miningsdorfer und Elisabeth Breitenberger
OÖLA, Landesgericht Linz, Sondergerichte, Vg 11 Vr 1948, Nr. 495
Werksdirektor Zak
OÖLA, Sondergericht Linz, Sch, 328, Akt 5272/47
Maria Kaiser
OÖLA, Landesgericht Linz, Sondergerichte, VgVr 1947, Nr. 185, VG 8/243/47
Hermine K.
OÖLA, Landesgericht Linz, Sondergerichte, Vg 11 Vr 1948, Nr. 495