Reisejournal: Der Boy von Ipanema

Es ist kurz nach fünf Uhr früh, die dunkleste Stunde der Nacht, als ich im Taxi sitze. Sade’s „Smooth Criminal“ im Flüsterton untermalt die Stille einer Fahrt durch Rio de Janeiro. Schemenhafte Schatten, in grauen Farben der Dunkelheit durchbrochen vom fernen Licht der Farvellas, die sich an die Hügel der Stadt klammern, ziehen am Fenster vorbei. Jetzt bist du also doch zurückgekehrt, sage ich mir, nach über zwanzig Jahren. Wie hast du dich verändert. Und Rio — Rio kein bisschen.

Sonnenaufgang am Ipanema Beach. Ich atme das Salz der kalten Meeresluft, den neuen Tag, lausche dem Gemurmel und Gespüle der Wellen und schieße Fotos von der Dachterasse des Sol de Ipanema Hotels. Der zuckerhutartige Berg sieht zum Anbeißen aus, ob er wohl den Eingang zur Unterwelt unter all der Schönheit des Strandes verbirgt? Es muss wohl am Jetlag liegen, der solch wirre Gedanken am Horizont meiner Müdigkeit brechen lässt. Schlafen und dann nocheinmal in Rio aufwachen, das beschließe ich zu tun.

Es ist noch früh, erst zehn, als ich den Ipanema Strand entlang laufe, das kalte Wasser an meinen Füßen spüre, den Sand, der versucht mich zu verschlingen. Ich bin wieder angekommen in Südamerika, dem Ziel meiner Flucht, meiner Angst und der Freiheit die ich suchte, damals als ich noch ein Teenager war und ohne Geld in Chile strandete. Ein Jahr dauerte es, bis ich mich auf dem Landweg nach Mexico City durchschlagen konnte. Oft arbeitete ich in kleinen Bars und Restaurants und oft nur für Essen – Pollo con arroz – oder verkaufte amerikanischen Touristen Kokain und fertiggerollte Joints. Damals kannte ich keine Angst, verlor keinen Gedanken daran, dass ich Opfer eines Raubüberfalls werden könnte, was hätte man mir schon wegnehmen können, ich besaß ja nichts. Heute lasse ich Laptop und Smartphone im Hotel und nur mit einem Handtuch über der Schulter und ein wenig Geld in der Badehose versteckt, verliere ich mich am Strand.

Gabriel, sagt er, ist sein Name. Er deutet auf sein Herz – Corazon – und zeigt dann auf mich. Arthurrrrro – mit langen rollenden rrrrrs, um meinen Namen so spanisch wie möglich klingen zu lassen. Ich erinnere mich nur mehr an ein paar Brocken Spanisch, es ist ja doch schon lange her. Er checkt mich aus. Ein Mulatte, jung, keine fünfundzwanzig. Muskulös, braungebrannt, wild. Ich würde sein Bildnis auf einer Postkarte verewigen und sie in alle Welt schicken, aber wer schreibt schon noch Postkarten? Ich mag ihn, er ist gefährlich. Ein Strandboy der für Touristen Strandsessel aufstellt und ihnen Bier bringt. Lange schaut mich Gabriel an, mustert mich, versucht mich zu lesen und ich starre ihn hinter dunklen Sonnenbrillen versteckt unentwegt an. Über und über mit Tattoos bedeckt und einem wilden punkigen Haarschnitt bin ich keiner seiner üblichen Touristen, die er mit billig gemixten Caipirinhas oder Touren zur Jesusstatue zufriedenstellen kann. Und wie ein schwuler Sextourist, mit denen er manchmal eine Stunde im Hotel verbringt, sehe ich auch nicht aus. Gabriel kommt näher an mich ran, fasst mit seinen Händen in seine Badehose, dessen mächtige Ausbeulung mir sofort an ihm aufgefallen ist. Er holt eine kleine Dose heraus, öffnet sie verdeckt in seiner großen Hand und zeigt mir den Inhalt. Marihuana? Cocaina? Er lacht und ich lache auch. Wir haben unsere Sprache gefunden. Me gusta mucho! antworte ich in perfektem Spanisch und schiebe ihm verdeckt einen Geldschein zu. Er drückt mir einen kleinen Plastikkegel in die Hand. Was? Keine gefalteten Koksbriefchen aus Zeitungspapier mehr? Wie hat sich Rio doch verändert. Una Cervesita mas? Noch ein Bier? Klar, es ist ja mein Urlaub und letzter Tag in Rio. Morgen Sao Paulo. Immer weiter.

Der Gewittersturm fegt die Sonnenschirme davon, spült die Stühle ins Meer und Regen peitscht die fliehenden Touristen vom Strand. Irgendwie hatte ich das Nahen der Apokalypse gespürt und filme von meinem Hotelzimmer einen Clip für Facebook – hoch über Rio und angenehm berauscht. Das Zeug ist gar nicht  so schlecht. Ich versuche Gabriel unter den Boys zu entdecken, die versuchen das Hab und Gut der Strandbars vor dem Zorn der Elemente zu retten, aber kann ihn nicht finden. Der Sturm hat auch ihn verschluckt. Der Strand ist leergefegt, als ich abends einen Spaziergang mache. Ich weiß, es ist gefährlich und jeder Reiseführer warnt Touristen sich auf keinen Fall nach Sonnenuntergang dort aufzuhalten. Ich lese keine Reiseführer und bin auch kein Tourist. Ich bin auf der Suche nach Gabriel.

Author: freakingcat
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