Was finden diese Menschen nur an der Natur? Was plagen sie sich jedes Wochenende in ihrer Freizeit damit ab einen Garten anzulegen, Sträucher und Bäume zu pflanzen und einen Rasen der dann andauernd gemäht werden muss? Warum wollen sie die Natur zu sich in die Stadt holen? Sollen sie doch froh sein, endlich dem Dreck des Landes entflohen zu sein in eine Stadt die frei ist von den Auswüchsen, von der verrohten Unbändigkeit einer wilden Natur. Saubere Straßen die sich nicht nach jedem Regenguss in dreckige Rinnsale verwandeln, Häuser in dehnen der zivilisierte Stadtmensch sicher ist vor den widerwärtigen Insekten und Kriechtieren, den Schlangen und Spinnen, die unter jedem Busch lauern und in ihrer heimtückischen und gefährlichen Art nur darauf warten ein unschuldiges Kind anzuspringen, zu beißen oder zu stechen. Die Natur hat ihren Platz vor den Toren der Stadt, bei den Bauern, Ackermännern und Landwirten, jene die weder hochwohlgeboren waren, noch ein bürgerliches Gewerbe betrieben, so dass ihnen bloß die Urbarmachung des Bodens verblieb. Deren Lebensaufgabe bestand darin tagaus tagein der widerborstigen Natur Rohstoffe zu entreißen, um daraus Lebensmittel zu produzieren, welche hygienisch verpackt, eingeschweißt in Plastikfolie, auf einem Styropor Untersatz und mit Ablaufdatum versehen, an die Stadt geliefert wurden, wo der Stadtmensch sie im Supermarkt käuflich erwerben konnte. Mit Kuhfladen vollgeschissene Wiesen, zum Himmel stinkende Misthaufen und Jauchegruben, das widerliche Geschrei der Schweine auf der Schlachtbank, das ununterbrochene Gackern von Hühnern, selbst das ohrenbetäubende Krähen des Hahnes noch vor Sonnenaufgang, all das erinnerte sie an ihre Kindheit und an die verlorenen Jahre ihre Jugend welche sie in einem kleinen Dorf in einem abgelegenen Kärntner Tal zubringen musste. Seitdem sie laufen konnte, wollte sie einfach nur weg, dem Landleben welches ihr aus ihrer tiefsten Seele heraus verhasst war, entfliehen, in eine Stadt in der sie ein Mensch sein konnte, nicht nur eine Landbewohnerin, eine Bäuerin, verdammt dazu einer undankbaren widerspenstigen Natur ihre Früchte durch harte dreckige Arbeit und viel Schweiß abzuringen. Sie wollte durch gepflegte Straßen spazieren, “Schaufenster schauen gehen“, und von anderen Stadtmenschen als jemand der ihrigen anerkannt und gegrüßt werden, als jemand der zu der Stadt gehörte, jemand der es zu Ansehen und Besitz gebracht hatte und dem man Achtung und Anerkennung entgegenbrachte. Ihre Herkunft hatte sie wie ein altes Fetzenkleid abgelegt und in die Vergangenheit, über die man zu schweigen hatte, verbannt. Nun hüllte sie sich in feine ausgesuchte Kleidung, trug Pelz selbst an Tagen an dehnen es schon viel zu warm war und genoss es viele ehrenamtliche Ämtern die für sie wie Standeswappen waren, zu bekleiden. “Eine widerliche Geltungssucht von einer ‘Zuagroasten’, die sich wie ein Kuckuck ins gemachte Nest gesetzt hat“, hatte Großmutter ihre Art umschrieben, sich ohne auch nur das geringste Gefühl von Scham oder Anstand sich andauernd und jedem zur Schau zu stellen. Bei uns zu Hause, in ihrem Stadthaus welches ihre Putzfrau immer auf Hochglanz zu halten hatte und welches steril, desinfiziert, frei von jeglichen tierischen bakterienübertragenden Krankheitsherden, da fühlte sie sich wohl. Sie saß in dem gepflegten Wohnzimmer, auf ihrer wuchtigen überdimensionierten dunkelroten Ledergarnitur welche mit der gegenüberliegenden und bis an die Decke reichenden massiven hölzernen Wohnwand den Raum in ein klaustrophobes und bedrohliches Verlies verwandelte und blätterte genüsslich in ihren Wochenmagazinen welche Namen wie “Tina“ oder “Frau im Spiegel“ trugen. Im Radio lief das Wunschkonzert welches selbst Vater schwerfiel zu ertragen. “Eine Erbschleicher Sendung ist das“, wetterte er, aber Mutter ließ sich um nichts davon abhalten jeden Samstagnachmittag ihr liebstes Radioprogramm zu hören. Der Ansager mit seiner falschen süßlichen Stimme, lies, um Oma Herta’s neunundachtzigsten Ehrentag zu feiern, Nana Mouskouri “Weiße Rosen nach Athen tragen“, oder Heino mit seinem Marsch “Alte Kameraden“ an bessere Zeiten erinnern. Bei Kaffee und einer Mehlspeise hörte sie andächtig zu wie der Mann im Radio verkündete: “Unserer lieben Herta Oma – Gottes Segen – so dass der Herrgott dich noch lange so rüstig und gesund in unserer Mitte belässt – zu deinem Festtag wünschen dir alles erdenklich Gute, deine Söhne Josef und Franz, die Tochter Maria, Schwiegertochter Kathie, sowie die Enkel, Severin, Jakob, Lukas, Peter und Barbara, die zahlreichen Urenkel und alle die dich ganz lieb in ihren Herzen halten“. Ganz verklärt war dann der Blick meiner Mutter und strahlte doch zugleich eine tiefe Traurigkeit aus. Konnte sie selbst keine Familie haben die auch ihr dieselbe Ehrerbietung entgegen brachte wie sie Oma Herta im Radio zuteil wurde? Warum schätzte sie ihr Sohn, ihr eigen Leib und Blut, den sie unter Qualen und Bedrohung ihres Lebens in die Welt gesetzt hatte, nicht? Dann stieg tief aus ihrem inneren eine unkontrollierbare Wut hinauf, ein Schrei nach Anerkennung, ihr Blick verfinsterte sich und wie ein Vulkan der plötzlich explodierte, Feuer und Magma um sich speiend, fuhr sie mich, der lesend in einer Ecke saß, an: “Niemals! Niemals schätzt du deine Eltern. Niemals höre ich von dir auch nur ein Wort des Dankes, keine Anerkennung für all das was ich für dich getan habe. Du weißt nichts von dem was ich durchmachen musste, um dich in die Welt zu bringen. Wochenlang war ich im Krankenhaus, war, nach dem Kaiserschnitt, dem Tod so nah und nur Blutkonserven die ich ertragen musste, haben mein Leben gerettet sonst wäre ich schon längst an deiner Geburt gestorben! Aber für dich ist das alles selbstverständlich, du denkst nur an dich! Oft bete ich zur heiligen Mutter Gottes und frage sie, warum, warum nur ist es mein Schicksal so gestraft zu werden? Ich gehe oft in die Kirche und bete für dich. Ich bete dass eines Tages zu dich ändern würdest, dass du eines Tages die vielen Opfer anerkennst die deine Eltern dir gebracht haben. Aber du spuckst ja nur auf uns, selbst dann wenn wir keine Kraft mehr haben und am Boden liegen!“ Da wusste ich dass wieder einmal die Zeit gekommen war, an dem es das beste ist, so schnell wie möglich das Wohnzimmer zu verlassen und in mein Zimmer zu fliehen, in dem ich mich hinter verschlossener Türe verbarrikadierte. Nur dort fühlte ich mich sicher vor ihren immer wiederkehrenden Belehrungen, Beschimpfungen, elendigen Selbstmitleids Bezeugungen und Hasstiraden, endlos lange Monologe in die sie sich wie vom Teufel besessen hineinsteigerte. Schon als kleines Kind hatte ich gelernt, dass jegliche Gegenwehr zwecklos war und nur dazu führen würde dass sie immer mehr und mehr mir an den Kopf werfen würde. Immer fand sie etwas an mir auszusetzen, egal was ich tat, es war niemals gut genug für sie. Brachte ich von der Schule gute Noten nach Hause, dann hieß es nur: “Ja du hast es einfach einen Einser oder Zweier zu bekommen ohne auch nur irgend etwas dafür zu leisten. Schau dir nur deine Schwester an, die tut sich so schwer beim Lernen und sitzt jeden Nachmittag an den Hausaufgaben und lernt, während du in deinem Zimmer hockst und Musik hörst.“ Selbst an meinem Aussehen, meine Art mich zu kleiden, fand sie ständig etwas auszusetzen. “Steck das Shirt in die Hose! Schneide deine Haare, die sind schon viel zu lang und schmeiß endlich diese verdreckte Jeans in den Müll, du läufst ja rum wie die Türken aus der Bahnhofsstraße“. Mein Zimmer war ein in sich geschlossenes Universum welches seine Magie nur für mich entfaltete und sich in meiner Fantasie manchmal in die Unendlichkeit erstreckte. In meinem Zimmer schloss ich mich weg vor meiner Mutter und ihrem Anspruch auf eine perfekte Welt, in welche ich einfach nicht passen wollte. Mein Zimmer war mein Sanctum, mein heiliger Ort, meine Zufluchtsstätte vor den Grausamkeiten, die mich in der Welt außerhalb erwarteten. Mein Zimmer war so leer wie mein Inneres. Ich hatte fast alle Möbel entfernt, schlief auf einer Matratze am Boden und besaß nur eine alte Truhe, die ich mit einem massiven Schloss vor den neugierigen Blicken meiner Mutter sicherte und einen alten Vinyl Plattenspieler den ich im Keller fand und den schon mein Vater benutzt hatte. Stundenlang hörte ich Platten, immer und immer wieder dieselben Nummern. “The End“ von den Doors, Bowie’s “Helden“, Arien von Klaus Nomi oder dunkelgraue Lieder von Ludwig Hirsch oder Nick Cave. Ich las viele Bücher und fand im “Fänger im Roggen“ oder in “Wir Kinder vom Bahnhofszoo“ meinen Schmerz, meine Einsamkeit und meine Verzweiflung wieder. Ich träume mit Harrer’s “Sieben Jahre in Tibet“ von fernen Ländern, von Welten die so anders waren als die in der ich gefangen war. Ich wusste, ich musste raus, ich musste fliehen, nicht länger konnte ich diesen Schmerz und die abgrundtiefe Leere in mir ertragen die mir die Kehle zuschnürte und die Luft zum Atmen nahm. Ich war noch keine vierzehn Jahre alt, aber schon fühlte ich den kalten Atem des Todes in meinem Nacken und immer wieder sprach er von Engelsflügeln die er mir geben wolle, mit dehnen ich mich aufschwingen könne um in die Unendlichkeit zu entschweben. Heute ist der Schmerz wieder einmal zu stark. Er überwältigt, vergewaltigt mich. Dunkle Gedanken wie Ketten aus Scham binden meine Glieder. Eine eiserne Hand dringt tief in meinen Brustkorb, umgreift mein Herz und drückt fester und fester bis aller Lebenssaft entweicht. Ich atme schwer und weiß, dass jetzt wieder der Moment gekommen ist. Ich schleppe mich zum Fenster und ziehe die Vorhänge vor. Die Dunkelheit ist mein einziger Verbündeter und Zeuge. Ich entzünde eine Kerze und ein Räucherstäbchen. Die Welt wird zu einem Spiel von Schatten die dionysische Tänze an den Wänden vollbringen. Ich liege flach auf dem Boden, unbeweglich und blicke auf die Decke an die ich einen alten roten Küchensessel geschraubt hatte. Mein Ritual ist meine geheime Scham und mein einziger Retter, niemand kann es verstehen, niemand kann mich davor retten. Ich öffne die Truhe und entnehme aus ihr einen alten Dolch der meinem im Weltkrieg gebliebenen Bruder meines Großvaters gehört hatte. Er war schon nicht scharf genug um mich zu Ritzen welches ich schon als zwölfjähriger mit Rasierklingen tat. Aber da Blutflecken auf den Ärmeln der Shirts schwer zu verbergen waren, begann ich schon bald mit dem Brennen welches mich nicht durch Spuren auf meiner Kleidung verriet. Das Spiel des Feuers erschließt das Mysterium meines Daseins und zieht mich immer tiefer und tiefer in den Bann seiner Erlösung. Gierig umschließt die Flamme die Spitze des alten Dolches welcher das Geheimnis seiner schweigenden Existenz durch Generationen meiner Familie wahrt. Meine Hände zittern, Schweiß perlt auf meiner Stirn. Glutrotes Leben aus der Hitze des Feuers geboren, erwache!, vergib mir meine Schuld, meine große Schuld, führe mich durch deine Versuchung und erlöse mich von dem Übel meiner Tat, denn dein ist die Macht der Erlösung und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Wie ein Stromschlag schießt die diabolische Kraft der Flamme aus meinen Arm in jede Zelle meines Körpers und explodiert in einem Orgasmus aus Schmerz, Lust, Angst und Scham. Ich erhebe mich, löse mich von der Schwere meines gepeitschten Körpers, vergesse die tötenden Worte meiner Mutter. Die pulsierende Wunde des heißen Eisens welches sich tief in das Fleisch meines Armes gefressen hatte, ist wie ein hungriges Herz, gierig nach Leben und schlägt und schlägt voller Kraft. Tief sauge ich den ersten Atem eines stummen Schreis in meine Lungen. Die Freiheit einfach nur zu sein in einer Intensität welche keine Grenzen kennt erfasst mein ganzes Dasein und ich beginne zu fliegen, immer höher und höher, immer weiter über den Horizont einer Welt die mir immer viel zu klein war. Ich umarme den dunkelroten Gipfel des Himalayas und schwebe über einem weißen Meer der Unendlichkeit. Ein paar Momente des Glücks die mich dem Verlies meiner grauen Tage entfliehen lassen. Ein Schuss Freiheit der mich für ein paar Momente aus der Banalität meines reißt und meine einzige Rettung ist.